Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
erwarten, daß er mit derselben Leidenschaft wie damals auf sie reagierte. Damals waren sie alle leidenschaftlich und gierig auf das Leben gewesen. Und genau diese Leidenschaft war mit den Jahren mehr und mehr abgeklungen, egal wie bedauerlich das war. Als habe der Körper ein eingebautes Arsenal an Betablockern, die alle Höhen einebneten und dem Leben die Unrast und den Zauber nahmen. Obwohl, die Unrast blieb oft, wie in seinem Fall. Aber der Zauber war weg. Jedenfalls beinahe. Und wenn er es erleben sollte und so alt wurde wie Bergljot und Gordon, Tulla und Kaare, würde der Zauber vollends verschwinden, und das erschreckte ihn. Er befand sich bereits in einer Art Vor-Depression, die in Wellen kam wie an diesem Tag, an diesem total idiotischen Tag. Er war keiner dieser ungewöhnlichen Situationen gewachsen gewesen. Mildred Låtefoss merkte es an seiner Stimme.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
Er hatte keine Lust, über die Eltern zu reden, und erzählte lieber über das letzte Ereignis, vielleicht auch, um eine kritische fachliche Einschätzung dieser Auseinandersetzung mit der jungen Mutter zu bekommen. Er schilderte den Verlauf des Gesprächs so gewissenhaft wie möglich. Sie stellte ab und zu einzelne Kontrollfragen, hörte aber meistens zu. Und als er fertig war, wurde es ganz still im Telefonhörer.
»Und nun?« sagte er nach einigen Sekunden. Es war unüblich, daß Mildred Låtefoss nichts sagte.
»Ich denke nach«, sagte sie. »Natürlich war dein Verhalten absolut korrekt. Zu Zeiten von Henrik Ibsen waren wir Ärzte die Tugendwächter. Wir tauchten sogar in seinen Theaterstücken auf. Wir waren nicht nur für Pillen und Behandlungen zuständig. Wir hatten ein Wissen über ganzheitliche Zusammenhänge. Das hat heute kaum noch jemand von uns. Du hast einen ehrlichen Versuch gemacht, für diese Frau ganzheitlich zu denken. Das war edel von dir und durchaus verständlich. Aber es war natürlich unglaublich dumm von dir, die Geschlechtskrankheit des Ehemanns zu erwähnen.«
»Dann wird mich die Schiedskommission der Ärztevereinigung wohl an den Pranger stellen?«
Sie lachte. »Im Gegenteil. Wir verleihen dir den Verdienstorden des Königs in Gold. Ich habe eben die offizielle Bestätigung aus dem Schloß erhalten. Du kannst dir denken, daß einige deiner Kollegen neidisch sein werden.«
Herrgott noch mal, dachte er. Das nicht auch noch. Nicht heute. Als ihm einfiel, daß er es bereits seiner Mutter gesagt hatte, stieg ihm die Schamröte ins Gesicht. Und Mildred Låtefoss fuhr unbeirrt fort. »Wir haben inzwischen auch den Termin für die Jahresfeier festgelegt. Vorgesehen ist der …« Sie sagte das Datum. Er dachte: Es ist einen Tag nach Elisabeths sechzigstem Geburtstag. Das war unmöglich.
»An diesem Tag kann ich nicht«, sagte er.
»Du kannst nicht? Was hast du Unaufschiebbares? Tennistraining? Einladung bei McDonald’s? Ich glaube dir nicht, lieber Freund. Du versuchst nur, dich zu drücken, wie du es immer gemacht hast.«
»Es ist der Tag nach Elisabeths sechzigstem Geburtstag«, sagte er.
»Um so besser«, sagte sie begeistert. »Doppelfeier!«
Aber das war doch unmöglich. Schließlich sollte Elisabeth im Mittelpunkt stehen! Frauen wie Mildred würden das nie verstehen. Tulla auch nicht. Sie liebten Festveranstaltungen. Konnten gar nicht genug davon haben. Als sei die äußere Form wichtiger als der Inhalt. Daß mit viel Tamtam und möglichst vielen spannenden Menschen gefeiert wurde, denen man zuprosten konnte. Sie organisierten und gestalteten, und alles mußte an seinem Platz sein. Als würden sie ihr Leben lang Lego spielen.
»Das geht nicht«, sagte er. »Das ist ausgeschlossen. Außerdem wollen wir am nächsten Tag nach Chicago fliegen.«
»Paßt wunderbar«, lachte sie entzückt. »Dann kannst du den Orden mitnehmen und im Hotel herzeigen. Da drüben lieben sie derartige Auszeichnungen. Du wirst auf der Lokalseite der Zeitung erscheinen! Was willst du übrigens in Chicago?«
»Es ist mein Geschenk für Elisabeth.«
»Chicago?«
»Ja, sie hat es sich gewünscht. Du kennst doch Saul Bellow. Ihr ganzes Leben war sie von ihm fasziniert. Außerdem das Art Institute. Das große Gemälde von Seurat. Wie heißt es noch mal?«
»Elisabeth war schon immer versnobt«, sagte Mildred Låtefoss. Er hörte plötzlich Spott in ihrer Stimme.
»Daß du sie so gut kennst, ist mir neu«, meinte er kurz angebunden.
»Die Eindrücke, die man in der Jugend bekommen hat, verschwinden nicht, Thomas.
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