Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
in einer Woche wiedersehen würde. Aber bald würden eine Pflegekraft oder zwei kommen, die ihm die Windel wechselten und dafür sorgten, daß er bis zur Schlafenszeit sitzen bleiben konnte. Er stellte sich vor, wie er zu Bett gebracht wurde, wie er sich, zum Skelett abgemagert, in Embryohaltung zusammenrollte.
In seiner Vision roch er sein ungewaschenes Haar und den Schweiß von den inzwischen regelmäßig wiederkehrenden Anfällen von Herzflimmern. Und er würde von Zeit zu Zeit wieder träumen, wie er hilflos im Schnee steckte und beim Herannahmen seiner Verfolger schrie.
Und dann kam unversehens der Morgen mit seinem grellen Licht. Und man half ihm aus dem Bett und ins Bad, wo er dann wie sein Vater mit vollen Windeln am Waschbecken stand und eine freundliche, aber bestimmte Pflegerin aus Äthiopien ihm ohne weiteres mit einem Lappen die Genitalien und den Hintern säuberte, ihm beim Rasieren half, was er gerne selbst gemacht hätte, die noch übrigen Haarsträhnen kämmte und ihm schließlich die Zähne putzte, wie sie es auch bei ihren eigenen Kindern machte. Dann half sie ihm, mit dem Rollator in den Frühstücksraum zu kommen.
Vielleicht saßen an seinem Tisch bereits drei andere Bewohner. Alles Frauen und alle senil. Die eine, Hjordis, schnappte ständig nach Luft, weil sie sich immer wiederam Essen oder der eigenen Spucke verschluckte. Sie war siebenundneunzig Jahre alt und hatte ein liebenswürdiges Lächeln. Die zweite, Sylvia, war erst dreiundsiebzig Jahre alt und auf alle und jeden böse. Ohne Vorwarnung schmiß sie ihren Teller auf den Boden, stand erzürnt vom Tisch auf und schrie: »Kann mir jemand erklären, wie ich nach Hause komme!« Die dritte, Gunvor, war neunundneunzig und nach jahrelangem Fluchen nun in der frivolen Phase. Sie sprach fast unablässig von Sex. »Wollen wir jetzt vögeln, Brenner?« sagte sie oft, und ihm war es peinlich, daß sie seinen Namen wußte. »Willst du meine Möse sehen, Brenner?« Oder: »Hast du dir heute nacht einen runtergeholt, Brenner?« Er würde höflich, aber ausweichend antworten. Er wußte ja, daß sie mit einem Priester verheiratet gewesen war. Wo der Deckel besonders fest schließt, ist die Explosion um so heftiger. Manchmal kam sie in sein Zimmer, und ihre Augen forderten: »Nimm mich!« Dabei konnte er nicht einmal aus eigener Kraft von seinem Stuhl aufstehen. Potenz hatte er auch keine mehr. Und natürlich wollte er Elisabeth treu sein.
Er stellte sich vor, wie er am Fenster saß und sie genau um vier Uhr anrief. Das tägliche Gespräch. Und das war eher trostlos, denn es gab fast nichts mehr, worüber sie reden konnten. Er fragte vielleicht: »War das Essen gut heute?« »Was?« »Ich fragte: War das Essen gut heute?« »Was?« »Bei mir gab es Schweinebraten mit Kraut.« »Was?« »Schweinebraten, hast du gehört?« »Ja, du hast Schweinebraten bekommen! War er gut?« »Ja.« »Was?« »Ich sagte, daß er gut war. Was gab es bei dir?« »Ich bekam Speck und braune Bohnen.« »Was?« »Speck und braune Bohnen, sagte ich!«
Er könnte sich vorstellen, daß dieses erbärmliche Gespräch trotzdem für beide der Höhepunkt des Tages war.Er meinte direkt körperlich zu spüren, wie er sich nach ihr sehnte, ihr übers Haar streichen wollte, obwohl das höchstens einmal an Weihnachten möglich war, wenn Line oder Annika es organisierten, daß sie sich endlich sehen konnten. Und obwohl das vielleicht äußerst traurige Aussichten waren, merkte er, daß er Angst davor hatte, nicht alt zu werden, Angst davor hatte, daß auch Elisabeth nicht alt werden würde. Als sei es besser, Jahr um Jahr jeder in einem anderen Pflegeheim in Oslo zu leben, als zu Asche verbrannt und vergessen zu werden.
Während Thomas Brenner mit dem Volvo nach Majorstuen zum Pflegeheim fuhr und sich all das vorstellte, klingelte das Handy, und er sah, daß es der Vater im Brenner-Haus war, und er hörte die nur allzu bekannte Stimme rufen: »Du mußt kommen! Du mußt sofort kommen!«
»Was ist denn los, Vater?«
»Die Abendzeitung! Sie wurde heute nicht gebracht! Die vom Pflegedienst sagte, der Briefkasten war leer!«
»Und was soll ich jetzt tun?«
»Bring mir deine Zeitung, oder kauf eine neue.«
»Ist das so wichtig, Vater?«
»Aber ich habe doch nichts zu lesen!«
Er hätte dem Vater antworten können, daß er immerhin die Morgenausgabe der Zeitung hatte, daß er Hunderte von Büchern in Nebenzimmer stehen hatte. Aber er sagte nichts. Jedesmal, wenn der Vater anrief, biß
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