Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
gefiel das nicht. Als hätte sie absichtlich ein kurzärmliges, türkisfarbenes Oberteil gewählt, das die blasse Haut noch betonte. Thomas Brenner fiel auf, daß niemand, nicht einmal Janne, sie zu fragen wagte, woher sie die Verletzung hatte. Demnach gingen alle davon aus, daß sich die Tochter die Verletzung selbst zugefügt hatte, Line also suizidal war. Am Abend vorher hatte Line einen Pulloverangehabt, und alle waren in bester Laune. Sie hatten den Kamin in der Küche angezündet. Tulla hatte alles darangesetzt, vom oberen Stockwerk nach unten zu kommen, und sich wie in alten Zeiten eine Zigarette angezündet, ohne sich zu entschuldigen, hatte mit den anderen am Küchentisch gesessen, wo der Rotwein bereitstand.
Thomas sah die Freude in Elisabeths Augen. Wenn Tulla froh war, dann war Elisabeth froh. Sie entspannte sich. Sie vergaß das große Fest am nächsten Tag. Alles war fast wie früher. Tulla erzählte die alten SAS -Abenteuer, der unheimliche Flug nach Rom in den sechziger Jahren, die kühne Notlandung in Anchorage einige Jahre später. Sie glaubte, das sei immer noch interessant, und die Töchter ließen ihr den Glauben, hörten sich die altbekannten Geschichten lächelnd und mit glänzenden Augen an. Thomas Brenner hatte nie begriffen, wie die sonst so selbständige Elisabeth immer wieder in die auf Tulla zugeschnittene Mädchenrolle schlüpfte. Der Abend hatte mit dem Abspielen von Tullas alten Lieblingsschlagern geendet, Songs aus der Zeit, als Elisabeth zur Welt kam. Wieder einmal wurde ihr erklärt, wie schwierig die Geburt gewesen war. Thomas war davon überzeugt, daß diese Geschichte in ihrer Rede am Festtag auftauchen würde. Ja, es ging immer um Tulla. Andererseits hatte sie die natürliche Gabe, Stimmung zu verbreiten. Sie war großzügig. Man fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart. Sie hörte sich immer die Geschichten der anderen an, aber egal, was erzählt wurde, es gelang ihr jedesmal, alles mit Erlebnissen aus ihrem Leben zu toppen.
Thomas Brenner stand an der Seite seiner Frau. Seine Beine zitterten. Das schlimmste wäre, Elisabeth zu enttäuschen. Aber dann begriff er, daß sie überhaupt keine Erwartungen hatte, daß sie sich den Umständen anpaßte,daß sie wieder die alte Rolle übernahm, die sie gespielt hatte, als sie noch bei Telenor arbeitete, wo sie die Dinge auch so nahm, wie sie kamen, und dabei fast immer einen souveränen Eindruck machte.
Diesmal hatte sie nach all den Vorbereitungen und den Einladungen, die sie Abend für Abend geschrieben hatte, eines Nachmittags beim Essen tief Luft geholt und gesagt: »Das soll jetzt werden, wie es mag.«
Von dem Augenblick an war alles viel einfacher. Annika, die deutlich nervös gewesen war und nicht wußte, ob es richtig war, eine Rede zu halten oder nicht, beruhigte sich ebenfalls und kümmerte sich wieder um ihre Silberarbeiten, ohne weiter über das bevorstehende Fest zu reden. Der Flug nach Chicago war der Blitzableiter, seit einem halben Jahr freuten sie sich darauf, endlich wieder zusammenzusein, alle vier und allein, wie früher.
Die letzten Tage hatte sie alle das Reisefieber befallen. Sie hatten in der Küche über die Reise gesprochen, im Erker, am Telefon mit Line. Auf einmal fing die USA -Reise an, Wirklichkeit zu werden. Thomas hatte jedesmal, wenn er daran dachte, ein flaues Gefühl im Magen. Dachte er lange genug darüber nach, bekam er einen Flimmeranfall. Er wußte, wieviel diese Reise für Elisabeth bedeutete. Eigentlich wäre es am besten gewesen, sie hätte sich allein auf den Weg gemacht.
Er hatte in ihrem kleinen Büro Papiere gesehen, die einem Manuskript ähnelten. Natürlich hatte er es nicht gewagt, mehr als einen flüchtigen Blick darauf zu werfen, aber es war auffällig, wie sie sich das ganze letzte Jahr so oft wie möglich dorthin zurückgezogen und am PC gesessen hatte. Er kannte sie gut genug und fragte deshalb nicht, ob sie an etwas Bestimmtem arbeitete. Nach all diesen Jahren des literarischen Schweigens steckte vermutlich tief in ihr ein neues Buchprojekt. Gerade deshalb könnte die Chicagoreise von besonderer Bedeutung sein. Wer sonst wählte sich schon Chicago als Reiseziel, wenn er sechzig Jahre wurde? Thomas Brenner merkte, daß ihn die Reise mehr beunruhigte als die Geburtstagsfeier. Drinnen hatten bereits der Pianist und der Bassist zu spielen begonnen. Die Feststimmung erfaßte jetzt auch Elisabeth und ihn. Solche großen Feste haben ihre eigene Physiognomie, dachte er, während er
Weitere Kostenlose Bücher