Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
zusammen mit der Jubilarin die Gäste empfing. Man wußte nie genau, wer welche Rolle spielte. Für viele waren derartige Veranstaltungen nur unangenehm. Sie lächelten nach allen Seiten, waren aber innerlich voller Ablehnung. Für andere war das Fest eine willkommene Gelegenheit, umsonst zu essen und zu trinken. Was Thomas anging, so graute es ihm vor der Rede, die er würde halten müssen, aber eigentlich nicht vorbereitet hatte, weil Elisabeth es nicht gutheißen würde, wenn er von einem Papier ablas. Sie verlangte mehr von ihm. Er hatte trotz all der positiven Eindrücke ständig das unbestimmte Gefühl, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte. Die vergangenen Nächte hatte er schlimme Träume gehabt, ohne sich daran erinnern zu können. Und wenn er erwachte, blieb eine unbestimmte Unruhe und Sorge. Er hatte das Gefühl, daß Elisabeth bedroht war, daß er ihr zurufen sollte: Paß auf! Tu etwas! Aber sie lehnte jeden derartigen Gedanken der Fürsorge von seiner Seite ab. Ihm waren die Hände gebunden, und das war für einen Arzt unerträglich. In seiner Rede dagegen durfte er nicht zögerlich sein und um den heißen Brei schleichen. Er mußte direkt zur Sache kommen. Er mußte ihr sagen, daß er immer noch nicht verstand, warum sie sich seinerzeit für ihn entschieden hatte, daß das wie ein Lottogewinn für ihn war usw. Worte, die sie überhaupt nicht brauchte und dieauszusprechen ihm nicht einmal Freude bereitete, die man aber von ihm erwartete.
Und vielleicht war es eine Sehnsucht nach Klarheit, die Elisabeth und ihn zu diesem Tag, zu diesem Fest veranlaßt hatten. Daß die Familie nicht länger der einzige Ort blieb, wo sie Menschen begegnen konnten. Daß das Schicksal beider Elternpaare sie mehr und mehr zur Verzweiflung trieb. Daß sie begriffen, wie wichtig es war, Freunde zu haben, sichtbar zu sein, auch für andere Menschen. Deshalb begrüßte Thomas Brenner viele, die er vergessen oder nie gekannt hatte, mit Handschlag, wenn Elisabeth sie herzlich umarmte. Mit jeder Person, die kam und die er nicht kannte, wurde sie ihm fremder.
Janne kam rasch vorbei und überprüfte, ob alles in Ordnung war, draußen die Fackeln brannten, die Frisur der Schwester saß. Es gab so viele zärtliche Details zwischen ihnen, auf die Thomas früher nie geachtet hatte. Und da kam Tulla, gefahren von Andreas, Elisabeths und Jannes jüngerem Bruder, einem Physiotherapeuten aus Stranda? Sandane oder Sandnes? Thomas wußte es nie. Ein freundlicher, bescheidener Zeitgenosse, verheiratet mit Åse, die in der Gemeindeverwaltung des Ortes arbeitete. Man sah sich nur selten. Wenn jemand anrief, war es Elisabeth. Weder bei den Dahls noch bei den Brenners bestand ein enger Zusammenhalt unter den Geschwistern, zu sehr lebten alle ihr eigenes Leben. Vigdis und Johan hatten plausible Entschuldigungen gefunden, warum sie nicht zur Geburtstagsfeier kamen. In Kongsberg fand ein Chor-Festival statt, und in Trondheim kam es Johan gelegen, daß er sich beim Joggen den Fuß verstaucht hatte.
Für Elisabeth spielte das keine Rolle. Sie hatte noch nie mit der Brenner-Familie gerechnet. Doch auf wunderbareWeise war es Bergljot und Gordon gelungen, Elisabeth einen Geburtstagsgruß zu senden. Päckchen, die mit der Post eintrafen. Eine niedliche Plastikhalskette von Bergljot, ein Almanach für das Jahr, das eben zu Ende ging, von Gordon. Elisabeth war gerührt. »Ich hätte mich öfter sehen lassen sollen«, sagte sie. »Du hast mehr als genug mit deinen Leuten zu tun«, antwortete er. Aber sie hatte den Kopf geschüttelt, und ihr Blick drückte Verzweiflung aus. Die Alten überforderten sie schlicht und einfach, hatte er gedacht.
Mit jedem Tag, der verging, verloren sie ein bißchen vom Lebensfunken, dachte er. Deshalb war dieses Fest so wichtig. Elisabeth sollte auf diese Weise für alle die Menschen, denen sie etwas bedeutet hatte, wieder konkret werden. Sie sollte gefeiert werden, eine Bestätigung für ihr Dasein in der Welt. Und endlich fühlte sich Thomas Brenner zufrieden. Vielleicht tat der Cava, den er kurz vor Eintreffen der Gäste in der Küche getrunken hatte, seine Wirkung. Er hatte keine Zwangsvorstellungen mehr, mußte sich nicht vor aller Augen in der Nase bohren, mußte keinen Flecken auf der Tapete berühren.
Es war Zeit, zur Musik zu gehen, um Unterstützung beim Absingen von Happy Birthday To You zu bekommen. Und dazu brauchte er nur mit den Fingern zu schnippen. Elisabeth Dahl im Mittelpunkt, im Strahlenglanz der
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