Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
könnte. Lieber kluge Aussprüche von mehr oder weniger berühmten Persönlichkeiten über das Paradox des Lebens hier auf Erden. Jemand, der für den Strang bestimmt ist, wird nicht ertrinken usw. Irgend etwas, das Churchill oder Roosevelt gesagt hatten. Das meiste war relativ amüsant, und auf einem Fest wie diesem war man ja fast verpflichtet zu lachen, die Stimmung stieg also bereits vor der Vorspeise.
Thomas Brenner hatte mit der Catering-Firma abgesprochen, daß am Wein nicht gespart werden sollte. Schon jetzt erwies sich das als guter Einfall, auch wenn die Brieftasche arg strapaziert werden würde. Die Sitzordnung bewährte sich, und in kürzester Zeit redeten alle mit allen. Nichts war ärgerlicher als Festessen, bei denen die Gäste nicht miteinander redeten. Wenn keine ungezwungenen Gespräche entstanden, blieb früher oder später nur die Höflichkeit. Man redete dann zwar, hatte aber nichts, worüber man redete.
Jetzt fiel ihm auch wieder ein, daß er genau das vor kurzem geträumt hatte, ein voller Speisesaal, und niemand sagte ein Wort. Im Traum hatte er sich für diese Situation verantwortlich gefühlt und sich an Jubiläen erinnert, woniemand zu reden angefangen hatte und alle nur passiv dagesessen hatten. Das konnte mit Evelyn Moldskæd als Festleiterin nicht passieren. Sie erhob sich schon, als die Vorspeise, gekühlte Lachsstreifen mit luftiger Kruste, noch nicht aufgegessen war. Da kamen die bewährten Sprüche und Zitate: etwas von Vergil und etwas von Shackleton. Somerset Maugham. Alles besiegt der Gott der Liebe. Wir sind noch einmal davongekommen … Immerhin waren das auch Anspielungen auf Thomas Brenner, den Ehemann der Jubilarin.
Er erhob sich und war trotz vieler Gedanken völlig unvorbereitet. Jetzt mußte er improvisieren. Jetzt mußte er zeigen, wer er war. Sobald er stand, wußte er: Ich muß Elisabeth vorstellen. Elisabeth Dahl in all ihrer Herrlichkeit. Er wußte, daß er nicht zu lang reden sollte, aber er war von Natur aus kein Redner, das würde schon gutgehen.
Er streifte die Jugendjahre. So viele kleine Episoden, die er hätte erwähnen können. Dabei durfte er nicht zu privat werden. Es war oft peinlich, wenn Eheleute Intimitäten preisgaben. Wenn es allerdings auf die richtige Art geschah, wirkte es manchmal befreiend, bewegend. Sie saß da und schaute ihn an, abwartend, aber auch zärtlich, wie wenn sie sagen würde: »Wir kennen einander ja so gut.« Diesen Eindruck hatte er nicht immer. Sie war viel geheimnisvoller als er.
Die Rußland-Geschichten konnten andere erzählen. Er wollte das Dahl-Haus in den Mittelpunkt stellen, wo sie Mutter, Tochter und Gattin war. Er hörte sich reden und dachte, daß um Elisabeth immer ein Hauch von Wehmut gewesen war. Als sei ihr Leben schon seit der Jugendzeit von Besorgnis geprägt. Dabei wußte er eigentlich nicht, worüber sie besorgt sein sollte. Außerdem hatte sie zuvielvon Tullas Wesen, um eine derartige Tristesse zu verbreiten. Es mußte ihr allerdings seinerzeit schwergefallen sein, ihre Schriftstellerkarriere aufzugeben. Und oft, wenn er sie in all ihrer Schönheit betrachtete, kamen ihm dieselben Gedanken wie bei manchen Patienten in seinem Sprechzimmer, die von Geburt an eine Behinderung hatten, denen ein Arm, ein Bein fehlte, die blind waren oder taub. Allein daß sie lebten, daß sie sich dem Alltag mit einem Anschein von Normalität stellten, verlieh ihnen in seinen Augen so etwas wie Tapferkeit. Weshalb dachte er in gleicher Weise an Elisabeth? Sie war doch erfolgreich, gutaussehend und keineswegs mitleiderregend. Lag es einfach an der Tatsache, daß er sie liebte? Daß diese Gefühle in ihm so überwältigend waren, daß er, so wie er sich als Kind vor dem Verlust der Eltern gefürchtet hatte, jetzt Panik hatte, Elisabeth könnte sterben, und zwar vor ihm?
Diese Gedanken waren so aufdringlich, daß er sie nicht zu bändigen vermochte. Er beschloß, sie allen, die am Tisch saßen und eine amüsante und geistreiche Rede erwarteten, zu erzählen. Ihm fiel in dem Moment auch das Gespräch im Mother India über die Unsterblichen ein, die Alten, die mit Hilfe von Medikamenten scheinbar das ewige Leben hatten, und Annikas Verzweiflung über die Jungen, die auf Langlaufloipen gerannt und im Gebirge Gipfel bezwungen hatten, genau wie Elisabeth, und die jäh aus dem Leben gerissen wurden. Er beschloß, all das zu erzählen in der Hoffnung, daß damit zum Ausdruck kam, wie unentbehrlich Elisabeth für ihn und Annika und
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