Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
seine verzweifelte Angst um sie? Hatte er in den letzten Jahren nicht mit dem beunruhigenden Gefühl gelebt, sie jederzeit verlieren zu können?
Sich das aber bewußtzumachen, hatte er kaum gewagt, weil er sich als Arzt inzwischen das erworben hatte, was er als präzise Vorahnung bezeichnete, das intuitive Wissen, daß manche seiner Patienten bald sterben würden. Aber Elisabeth hatte keinerlei Symptome für eine tödliche Krankheit gehabt. Jedenfalls bis jetzt nicht. Und über dieses eine Symptom weigerte sie sich, mit ihm zu reden. Deshalb mußte er sich damit beruhigen, daß sie sich offenbar gesund fühlte. Seine Angst durfte jedenfalls keinen Schatten auf die Chicagoreise werfen. Es sollte eine Vergnügungsreise werden. Es mußte eine Vergnügungsreise werden. Besonders jetzt, nachdem es ihr gelungen war, sich von den Ängsten um ihre Mutter zu befreien. Wie er sie verabscheute, diese Angst. Die jede Freude zerstörte, die ihn zwang, in einem existentiellen Vakuum zu leben, ständig darauf vorbereitet, daß das Schlimmste geschehen könnte. War nicht instinktiv die Angst ausschlaggebend gewesen für seine Entscheidung, den Arztberuf zu ergreifen, ein vorbeugender Instinkt, der tief in seiner Persönlichkeit verankert war, vielleicht, weil Bergljot ständig um ihn, Vigdis und Johan Angst gehabt hatte. Dabei war diese Angst sinnlos gewesen.
Und während er einen Blick auf Annika warf, mußte er daran denken, daß es, statt sich wegen der Zukunft zu ängstigen, vielleicht besser gewesen wäre, die Gegenwart zu sehen, daß Annika mehr und mehr die Kontrolle über ihr Gewicht verlor. Daß Elisabeth und er in ihrer stetsverständnisvollen Gutmütigkeit die älteste Tochter in ein Extremleben getrieben hatten, das äußerst gesundheitsgefährdend war. Mit ihren Blutzuckerwerten und dem verfetteten Herzen war dieses junge, nette Mädchen einem großen Risiko ausgesetzt. Ihr Blutdruck war bereits hoch und der Blutzucker völlig inakzeptabel. Immer wieder hatte er eine Diät für sie ausgearbeitet, die sie offensichtlich nicht einhielt. Sie, die eine solche Angst hatte, ihre Eltern zu verlieren, könnte leicht die erste sein, die sterben mußte, dachte er.
Aber sie war sich dessen nicht bewußt. Die, die am meisten gefährdet waren, verhielten sich häufig am leichtsinnigsten. Tulla zum Beispiel. Sie hatte wahrscheinlich keinen Gedanken daran verschwendet, daß sie die Festverderberin sein könnte. Wenn nicht verantwortliche Stellen sie gestoppt hätten, würde sie immer noch Auto fahren, obwohl sie kaum noch die Kraft hatte, das Lenkrad zu halten.
Ach, dachte Thomas Brenner immer wieder, er hätte nicht geglaubt, daß gerade diese Lebensphase so schwierig werden würde! Beide Kinder sollten jetzt flügge sein, selbständig und stark, Elisabeth und er sollten jetzt mehr Zeit füreinander haben, gesund und unternehmungslustig die Früchte ihrer Arbeit ernten. Nun ja, die Chicagoreise war immerhin ein unmittelbar bevorstehendes Erlebnis für sie alle, und er war dankbar dafür, daß Janne alles daransetzte, damit die Reise stattfinden konnte. Ursprünglich war das Ganze als sein Geschenk an Elisabeth gedacht, aber es war auch ein Geschenk an alle, ihn eingeschlossen. Als Elisabeth andeutete, daß sie gerne das Chicago Symphony Orchestra hören würde, wußte er sofort, daß sie es sagte, weil sie genau wußte, daß das auch für ihn ein Höhepunkt sein würde.
Und bei der detaillierten Planung der Reise hatte er gemerkt, wie überlegt Elisabeth versucht hatte, für die wenigen Tage, die sie in der großen Stadt verbrachten, alle Interessen unter einen Hut zu bringen. Eine Tanzvorstellung, ein Atelier, in dem Gold- und Silberschmiede von Weltformat ausstellten, das Chicago Symphony Orchestra und nicht zuletzt: Restaurants, die ihnen gefallen würden. So endete dieser Abend doch noch positiv, dachte er und hoffte, daß der Schlaganfall Tulla nicht völlig außer Gefecht setzte. Dennoch war er beunruhigt, denn er deutete es als Zeichen von Erschöpfung, daß Elisabeth so überraschend schnell die Pflege Tullas der Schwester überlassen hatte. Ja, nach so langer Zeit ständiger Bereitschaft mußte sie erschöpft sein. »Es wird Zeit, sich hinzulegen«, sagte sie und gähnte. »Danke für alles, was ihr für mich getan habt, heute und an allen Tagen. Ob ihr es glaubt oder nicht, ich bin sehr glücklich. Und ich bin die verwöhnteste und sicher auch undankbarste Frau der Welt.«
In dieser Nacht schliefen sie miteinander.
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