Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
schreiben.
    Und nichts freute ihn mehr, denn er war überzeugt, daß es das war, was sie in all diesen Jahren eigentlich im Kopf gehabt hatte. Und natürlich mußte sie sich gewünscht haben, nach Chicago zu fliegen, als Saul Bellow noch lebte, aber er war 2005 gestorben. So gesehen hatte diese Reise auch einen Hauch Melancholie. Eine Pilgerreise an einen Ort, wo der Prophet gerade verstorben war, würde jeder als traurig erleben. Aber für Elisabeth waren alle Figuren Bellows nach wie vor lebendig. Thomas Brenner hatte die großen Romane natürlich alle gelesen, die Elisabeth so viel bedeuteten, und ihm war eine Art Übereinstimmung bei all diesen Figuren aufgefallen. Sie hatten eine Vorstellung von der Realität, aber sie verstanden nie, was wirklich wesentlich war. Mit dieser Lebensperspektive hatte sichElisabeth offenbar schon früh identifiziert. Das war nicht weiter aufsehenerregend, aber für Thomas erhellend, denn über die Konflikte, mit denen sich Bellows Figuren herumschlugen, hoffte er, Elisabeths Persönlichkeit zu erkennen.
    Der Schlüssel zu Bellows Prosa, soviel war ihm klar geworden, war die Tatsache, daß ihn aus den Buchseiten das Leben selbst anblies. Bellow benötigte keine erste Person Singular, um dem Leser begreiflich zu machen, wie sehr er sein eigenes Leben beschrieb, hatte Elisabeth gesagt. Sie hatte genug von der Selbstverliebtheit der Autoren um sich herum. »Er aber schärft ständig den Blick auf das Leben. Er hebt die Wirklichkeit für den Leser auf Augenhöhe und macht es ihm leichter, mit offenen Sinnen in sie hineinzugehen.« Thomas war beinahe eifersüchtig auf Elisabeths Verhältnis zu dem Nobelpreisträger. Er hatte in Protuberanzen, die er heimlich immer wieder gelesen hatte, nach Spuren von Bellow gesucht, um sich daran zu erinnern, wie Elisabeth gewesen war und was sie zum Ausdruck hatte bringen wollen. Aber Elisabeths Prosa bewegte sich nicht im Rahmen der Wirklichkeit. Ihre Frauenfiguren in dieser ersten und einzigen Novellensammlung waren weit extremer als Bellows Männer. Trotzdem hätten sie durchaus ihren Platz als Nebenfiguren in einigen von Bellows Romanen finden können.
     
    Sie bewegten sich langsam auf die Sicherheitskontrolle zu. Thomas beobachtete Annika, als sie aufgefordert wurde, die Schuhe auszuziehen und ihren Schmuck abzulegen. Natürlich, eine Menge Metall. Auf einmal stand sie da auf Strümpfen in ihrer riesigen Tunika oder wie man das nennen sollte, dieses Baumwollungetüm mit Missoni-Muster, das wie ein Sack an ihrem Körper hing und die birnenförmige Silhouette noch betonte, die enormen Fettwülste, ihrausuferndes Hinterteil. Er erinnerte sich an sie als Baby, schlank und perfekt hatte sie ihn angelächelt, wenn er sie auf den Armen wiegte. Jetzt würde er es nicht schaffen, sie vom Boden hochzuheben.
    Endlich hatten sie die Absperrung hinter sich. Elisabeth wollte sofort in den Buchladen, um sich einige Bücher zu kaufen. Aber Line hielt sie resolut zurück: »Du fliegst nicht nach Chicago, um die Nase in Bücher zu stecken, Mama!« Nein, da gab sie der Tochter recht. Und schließlich hatte sie Bellow im Gepäck, Der Regenkönig und Herzog. Sie passierten deshalb die letzte Kontrolle, und vor ihnen lag der Duty-free-Shop, die Konsumhölle für Alkohol und Parfüm.
    Thomas war schon lange nicht mehr verreist. In den letzten Jahren hatte sich sein Leben auf Praxis und Ferienhaus beschränkt.Vorher, in den reichen achtziger Jahren, war er auf Ärztekongressen in der ganzen Welt gewesen, als Vertreter der Ärztevereinigung natürlich Business class geflogen.
    Deshalb wollte man ihm vermutlich die Auszeichnung verleihen, dachte er, weil er dazu beigetragen hatte, die Allgemeinmedizin aufzuwerten und zugleich Rahmen und Möglichkeiten abzustecken. Die Welt hatte sich verändert seit damals. Jedenfalls die Flughäfen, wie er feststellte. Eine Atmosphäre wie auf großen Busbahnhöfen. Die Menschen liefen herum und aßen aus Papiertüten, standen mit Baguettes und Colaflaschen am Gate. Annika wollte auch sofort etwas essen.
    Einwände waren zwecklos. Sie waren jetzt im Urlaub, jetzt sollte jeder tun dürfen, wozu er Lust hatte, und Annika war alt genug, Entscheidungen zu treffen. Sie holte sich eine Riesenpizza bei Pizza-Hut und verschlang sie auf der Stelle mit einem entzückten Gesichtsausdruck,in der linken Hand eine Cola. Die anderen warteten auf sie. Das Gate zum Flug nach Kopenhagen lag in nächster Nähe. Thomas hatte selten Gelegenheit, so viele

Weitere Kostenlose Bücher