Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Das erste Mal, seit er den Knoten gespürt hatte. Und er war erstaunt, daß sie auf einmal gar nicht mehr müde war. Wollte sie sich selbst etwas beweisen? Daß sie nicht so alt war wie Tulla? Daß sie sechzig geworden war, aber sich dem Alter nicht ergeben wollte? Oder war es ihre Art, sich zu bedanken?
Ihre Leidenschaft erinnerte ihn an die Jugendzeit. Die ersten berauschenden Nächte. Die starken Arme. Nichts von außen konnte zwischen sie kommen. Er wollte sie ganz und gar befriedigen.
Als sie zwei Tage danach zum Flughafen kamen, stellte Thomas Brenner fest, daß seine drei Damen, die ihn umschwirrten, fröhlicher und aufgekratzter waren als sonst. Erstaunlicherweise wirkte sich Tullas Situation nicht nachteilig auf die Stimmung aus. Sie wußten inzwischen, daß der Schlaganfall ernster war als ursprünglich angenommen. Tulla konnte sich ohne fremde Hilfe nicht auf den Beinen halten, und sie hatte große Probleme beim Sprechen. Als alle gemeinsam im Krankenhaus bei ihr waren und sahen, wie schlecht es ihr ging, zweifelte Thomas keine Sekunde, daß er die Chicagoreise vergessen konnte. Aber als Janne sich ausdrücklich bereit erklärte, die Verantwortung für die nächste Woche zu übernehmen, war deutlich, ja auffällig zu beobachten, wie Elisabeth aufatmete. Wie glaubwürdig war diese sogenannte pflegende Fürsorge? dachte er. War es lediglich Pflichterfüllung gewesen? Waren dabei die Gefühle auch bei ihr auf der Strecke geblieben? Wer von ihnen war im Grunde bereit, zuzugeben, wie sehr die Beschwerden der Alten die Gefühle, die Kinder für ihre Eltern empfinden, abgenutzt hatten? Er sah, wie deprimiert Tulla war, noch im Schock, wie unvorbereitet sie dieser Schlaganfall getroffen hatte, als hätte sie in den letzten Jahren, in denen sie zu kränkeln begonnen hatte, nie damit gerechnet, jemals in so eine Situation zu kommen. Sie suchte ihn mit dem Blick, weil sie nicht vergaß, daß er Arzt war. Sie flehte ihn beinahe an, sie aufzumuntern und hoffnungsvollere Prognosen zu äußern als die Krankenhausärzte. Er sagte dann auch, daß er überzeugt sei, daß sie ihre Beweglichkeit wiedererlangen würde und daß sie wieder klar und deutlich werde sprechen können.
Er fühlte sich moralisch gesehen auf einem Tiefpunkt, hatte eine Stufe erreicht, die er sich nie hätte vorstellen können. Sie hatte nach seiner Hand gesucht, aber wegen der ebenfalls eingetretenen Sehschwäche vergeblich. Er hatte sie ergriffen und mit beiden Händen festgehalten und doch das Gefühl gehabt, das sei nicht genug. Er mußte sie umarmen. Und da erfaßte ihn plötzlich eine ungeheureZärtlichkeit für diese lebensfrohe, immer aktive Frau. Verzweifelt mußte er wieder einmal erfahren, wie ein Mensch auf den Tod zuging, wie Tulla von nun an mehr oder weniger schnell bis zur Unkenntlichkeit reduziert werden würde, ein Opfer persönlicher und physischer Katastrophen.
Es war ihr Schicksal, sich wie eine Überlebende nach einem Erdbeben zu fühlen, egal ob sie in einem Pflegeheim landete oder nicht. Und er war unfähig, die Schreckensvorstellungen zu unterdrücken, daß Elisabeth einmal in diese Situation kommen würde oder Annika oder Line. Daß sie alle die kalte und dunkle Wand des Todes in nächster Nähe spüren würden, als Verlust der Sehkraft auf einem Auge, als Erfahrung, die Konsonanten nicht mehr in der richtigen Reihenfolge sprechen zu können, als eine tiefe, innere Unsicherheit, ein langsam mahlender Prozeß, bei dem alle Fähigkeiten zerstört wurden, Tag für Tag in zunehmendem Maße zu merken, was man alles nicht mehr zu tun vermochte.
Andererseits war Elisabeth immer eine starke Frau gewesen, stärker, als er es für möglich gehalten hatte. Vielleicht hatte sie durchaus darüber nachgedacht, warum ihre Mutter unbedingt bei diesem sechzigsten Geburtstag hatte dabeisein wollen. Sie hatte schließlich verlangt, von Andreas gefahren zu werden. Eigentlich hätte sie sich gewünscht, von Elisabeth hin- und zurückgefahren zu werden, aber Thomas hatte ihr zwei Tage vor dem Fest erklärt, daß die Tochter die Hauptperson des Abends sei und deshalb das Recht auf ein oder zwei Glas Wein haben sollte. Sie müsse ja sicher des öfteren mit den anderen anstoßen. Das hatte sie verstanden und deshalb schnell einen Blick auf Andreas geworfen. Er sollte sie fahren. Sie hatte aufgeschnappt, daß er mit Åse im Auto aus Vestlandet gekommen war. Dann konnte er sie sicher auch holen und bringen. Ihr fiel es nicht im Traum ein, daß
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