Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
sie ein Taxi hätte nehmen können, daß der Sohn sich gerne, wie all die anderen, frei bewegt hätte. Vielleicht wollte sie ihn auch bestrafen, daß er so selten in Oslo auftauchte und daß er sie nur sehr sporadisch anrief. Außerdem neigte Tulla zu einem von Jahr zu Jahr schlimmeren Geiz. Sie liebte Schwarzarbeit, und sie erwartete, aus jeder Situation so billig und kostengünstig wie möglich herauszukommen. Deshalb war Andreas an der Reihe. Die Chicagoreise war lebenswichtig geworden, ein Sein oder Nichtsein, eine Chance für ihn, Elisabeth und die Töchter, sich wieder zu konsolidieren , wie Elisabeths Lieblingswort hieß, weil trotz allem gewisse Spannungen zwischen ihnen aufgetreten waren, die weder die Geburtstagsfeier noch Tullas Schlaganfall hatten beseitigen können.
Deshalb war Thomas Brenner geradezu euphorisch, als er als erster in der Schlange beim Einchecken stand und der selbsternannte Reiseleiter war. Er war erleichtert, weil alle in der Familie Mildred Låtefoss und den unsinnigen Einfall mit dem Verdienstorden vergessen hatten. Es gab sicher auch später noch einen Anlaß, dachte er und merkte, daß die Möglichkeit, eine derartige Ehrung zu erhalten, ihn verändert hatte. Er dachte jetzt anders und freundlicher daran, sah es als eine Geste, die ihn für einige Stunden aus dem Kreislauf des Alltags herausheben würde.
Aber alles zu seiner Zeit. Zuerst kam Chicago. Elisabeth und die Mädchen alberten hinter ihm. Sie hatten den scherzenden Ton wiedergefunden, den sie lange nicht mehr gehabt hatten, der aber eigentlich ihre Jugendzeit geprägt hatte. Elisabeth hatte die Fähigkeit, Kumpel und Freundin zu sein, ohne die Autorität als Mutter zuverlieren. Ja, dachte Thomas am Flughafen Gardemoen an diesem kühlen Novembertag des Jahres 2009, man konnte wieder an eine Zukunft glauben, obwohl die Umstände nicht unbedingt ideal waren. Elisabeth fiel es sicher schwer, ausgerechnet jetzt Norwegen zu verlassen, und Thomas konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie sein Vater klarkommen sollte, wenn er sieben Tage nicht bei ihm vorbeischaute. Aber etwas trieb sie nach Chicago. Und Thomas wußte, was ihn lenkte: der Wunsch, sich den anderen wieder ganz nah zu fühlen.
Er genoß es, Annika und Line zusammen zu sehen. Line hatte sich mit Genehmigung der Ballettlehrerin vom Tanzinstitut freigenommen. Annika war froh, ihrer Werkstatt im Dahl-Haus entfliehen zu können, wo sie in der letzten Zeit ungewöhnlich intensiv gearbeitet hatte, offenbar, um einen neuen Ausdruck für ihr Schmuckdesign zu finden. Thomas wagte nicht daran zu denken, daß diese Reise die Ersparnisse der letzten Jahre auffressen würde. Er hatte es nie geschafft, einer der reichen Ärzte am Holmenkollen zu werden.
Aber je klarer sich herausstellte, daß das Brenner-Haus nichts mehr wert war, daß der Vater all sein Geld verloren hatte, um so spendabler wurde er. Mit fatalistischer Haltung benutzte er großzügig seine Kreditkarten, war bereit, Geld auszugeben, das er nicht hatte.
Schon vor längerer Zeit hatte er sowohl die Flugtickets wie die Hotelzimmer im Palmer House Hilton gebucht. Das Hotel hatte sich Elisabeth gewünscht, und für Thomas war vor allem angenehm, daß diese »Old Lady« unter den amerikanischen Hotels perfekt gelegen war, einen Katzensprung vom Art Institute und der Symphony Hall entfernt, und daß es Elisabeth zufolge dort deutliche Spuren von Saul Bellow gab; Palmer House als das perfekte Hotel fürBellows komplexe Personen, zwielichtige Gestalten, das Hotel der Geliebten und der Gangster. Ein altes Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, von Kipling gerühmt, eine Manifestation Amerikas.
Jetzt war Elisabeth Dahl an der Reihe, den Traum ihrer Jugend zu verwirklichen, der sie damals zu etwas Besonderem gemacht hatte, das Wissen um Chicago und Bellow, die intensive Faszination der jungen Frau für diesen egoistischen, bösen alten Mann, der ihrer felsenfesten Überzeugung nach eine bessere und exaktere Prosa schrieb als jeder lebende Schriftsteller der Welt. Als hoffte sie im Alter von sechzig Jahren, nach einem Leben, das sie zu ganz anderen Dingen als dem Schreiben verwendet hatte, wieder in sein Universum einzudringen, den Code zu knacken, seine innere und äußere Landschaft zu erfahren, die fünf Ehen zu verstehen, die er hinter sich hatte, bevor er starb. Es war eine Art Forschungsreise, und das konnte nur auf eines hindeuten, dachte Thomas Brenner, daß sie wirklich plante, wieder ein Buch zu
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