Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Hauptgericht alles zu zerstören. Diese Wut war natürlich sinnlos. Selbstredend hatte er auch Mitleid mit ihr. Aber das dachte er mehr, als es zu empfinden. Als er sie anschaute, entdeckte er einen Zug in ihrem Gesicht, der ihm nicht gefiel. Herrgott, war sie kurz vor einem Schlaganfall? Er meinte eine Grimasse zu sehen, die unangenehme Assoziationen in ihm weckte. Aber sollte er jetzt diese Diagnose stellen und sie direkt in die Notaufnahme schicken? Dann würde Elisabeth garantiert für ihr Fest verloren sein. Dann würde sie bis zum frühen Morgen bei der Mutter ausharren.
Janne schickte sich bereits an, Tulla aus dem Saal zu bringen. Vielleicht ließ sich das Fest ja noch retten? Die Möglichkeit, daß es kein Schlaganfall war, bestand durchaus. In den letzten Jahren hatte es diesbezüglich oft falschen Alarm gegeben. Starke Schmerzen, der Krankenwagen kam, und dann war doch nichts. Außerdem warTulla nicht seine Patientin. Aus diesen Gründen beschloß er, nichts zu sagen, und überließ es Janne, die Schwiegermutter nach Hause zu bringen. Andreas hatte sie im Auto hergebracht und versprochen, nichts zu trinken. Er konnte sich jederzeit ans Steuer setzen. Jetzt hatten er und Janne die Mutter zwischen sich, halb trugen und halb schleppten sie die alte Frau nach draußen. »Einen Augenblick«, rief Thomas Brenner den Versammelten zu, als er, Elisabeth und die Töchter gemeinsam hinaus auf den Flur traten.
»Wir können genausogut die ganze Sache abblasen«, sagte Elisabeth. »Nach diesem Vorfall ist ein Weitermachen unmöglich.«
»Halt den Mund, Elisabeth«, sagte Janne ärgerlich. »Das ist nur eine Unpäßlichkeit.«
Diese Einschätzung der Lage schien Elisabeth etwas zu beruhigen. Gleichzeitig kam es Thomas vor, als würden die Anzeichen eines Schlaganfalls deutlicher. Sollte man doch das Fest abbrechen? Oder bekanntgeben, man möge ohne die Hauptperson weiterfeiern, sich das Essen schmecken lassen und kräftig trinken? Dann würde die Veranstaltung ja zum Leichenschmaus, und sofort meldeten sich wieder seine Zwangsvorstellungen: Wenn das Fest so endete, würde Elisabeth bald sterben, dieser Vorfall wäre die Prophezeiung. Das bedenkend, entschied er sich, seinen Verdacht auf einen Schlaganfall nicht zu äußern. Zum erstenmal in seinem Leben handelte er medizinisch gesehen unverantwortlich, und er tat es ganz bewußt.
Gewöhnlich gehörte er zu den Übervorsichtigen, ordnete bei seinen Patienten eher eine Untersuchung mehr an, obwohl er fast sicher war, daß es falscher Alarm war. Und diese Entscheidung lag ihm auf der Seele. Egal, was nun mit Tulla war, seine Gefühle sollten an diesem Tag allein Elisabeth gelten. Eine Unpäßlichkeit, sonst nichts,und bald glaubte er selbst daran. Janne sprach noch einmal einige deutliche Worte mit Elisabeth, deutete auf die Tür zum Speisesaal und fauchte: »Geh jetzt sofort hinein zu deinen Gästen, und laß Thomas seine wunderbare Rede beenden, sonst bring ich dich um!«
Sogar Tulla versuchte zu nicken, obwohl Thomas feststellte, daß sie ziemlich desorientiert aussah. Annika und Line unterstützten ihre Tante. Sie nahmen Elisabeth und zogen sie mehr oder weniger hinter sich her in den Saal zurück. Die Tür schloß sich hinter ihnen.
Das Personal wechselte die Tischdecken und brachte frische Teller. »Eine kleine Unpäßlichkeit«, verkündete Thomas Brenner den Gästen. »Sie muß nach Hause und sich ausruhen.« Merkte denn niemand, wie falsch seine Worte klangen? Erst jetzt sah er, wie wütend Elisabeth war. Sie hätte das Fest sofort beendet. Und ihm war in dem Moment auch klar, daß es sich nicht mehr retten ließ. Die Hauptperson war nur noch physisch anwesend. In Gedanken war sie bei der Mutter und dem, was im Dahl-Haus passierte. Also ein gescheiterter sechzigster Geburtstag, zerstört durch die gesundheitlichen Probleme eines alten Menschen, einer Greisin, die um die ganze Welt gereist und es gewöhnt war, auf nichts zu verzichten. Warum mußte sie mit aller Gewalt auch diesmal dabeisein?
Seine Wut erschreckte ihn. Diese mangelnde Fähigkeit zur Toleranz, die sich bei den letzten gemeinsamen Restaurantbesuchen mit den Schwiegereltern angestaut hatte. Umgekippte Gläser, Essen, das von der Gabel fiel. War Altwerden wirklich damit verbunden, daß man niemals aufgeben wollte? Warum galt es in dieser Gesellschaft als negativ, die Segel zu streichen, zu resignieren, einfach einzusehen, daß etwas zu Ende war?
Elisabeth war die Ausnahme. Im Grunde hatte sie
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