Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
angehenden Mediziner beim Abschluss ihres Studiums ablegen, verpflichtet den Arzt zur Verschwiegenheit, weil ihm die Patienten sonst nie all die persönlichen Dinge anvertrauen würden, die er wissen muss, um eine Diagnose stellen zu können. Wie aber der Nürnberger Kodex und der Verhaltenskodex der American Medical Association, der eindeutig besagt, dass Patientendaten vom Arzt vertraulich zu behandeln sind, so war auch der Hippokratische Eid kein Gesetz.
Heute würde die ungenehmigte Veröffentlichung medizinischer Informationen gegen US-Bundesgesetze verstoßen. Anfang der Achtzigerjahre jedoch, als irgendjemand Henriettas Krankenakten an Gold weitergegeben hatte, existierte ein solches Gesetz noch nicht. Mehr als 30 Bundesstaaten hatten zwar Gesetze zur Vertraulichkeit von Patientenakten erlassen, Maryland jedoch gehörte nicht dazu.
Mehrere Patienten hatten ihre Ärzte bereits erfolgreich wegen Verletzung des Datenschutzes verklagt. In einem Fall waren Unterlagen ohne Einwilligung der Patientin weitergegeben worden, in anderen hatten Ärzte ohne Zustimmung Fotos veröffentlicht oder Videos öffentlich gezeigt. Aber alle diese Patienten hatten Henrietta gegenüber einen wichtigen Vorteil: Sie lebten noch. Tote haben nämlich kein Recht auf Datenschutz – auch nicht, wenn ein Teil von ihnen noch am Leben ist.
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Das Geheimnis der Unsterblichkeit
M ehr als 30 Jahre nach Henriettas Tod trug die Forschung an HeLa-Zellen schließlich zur Klärung der Frage bei, wie ihre Krebserkrankung begonnen hatte und warum ihre Zellen nie gestorben waren. Der deutsche Virusforscher Harald zur Hausen entdeckte 1984 einen neuen Stamm sexuell übertragbarer Viren, die als Human-Papillomvirus 18 (HPV-18) bezeichnet wurden. Zur Hausen war überzeugt, dass dieser Erreger und das von ihm ein Jahr zuvor entdeckte HPV-16 Gebärmutterhalskrebs verursachen. Die HeLa-Zellen in seinem Labor waren im Test positiv für den Stamm HPV-18, aber zur Hausen forderte beim Hopkins auch eine Probe von Henriettas ursprünglichem Biopsiematerial an. Nur so konnte er sicher sein, dass ihre Zellen nicht erst in der Kultur mit Viren verunreinigt worden waren. Die Probe war im Test nicht nur positiv, sondern sie zeigte auch, dass Henrietta mit mehreren Exemplaren von HPV-18 infiziert war, das sich als eines der bösartigsten Stämme dieses Virus erwies.
Insgesamt gibt es mehr als 100 Stämme von HPV, und 13 davon verursachen Krebserkrankungen von Gebärmutterhals, Anus, Mund und Penis. Heute infizieren sich rund 90 Prozent aller sexuell aktiven Erwachsenen im Laufe ihres Lebens irgendwann einmal mit mindestens einem Stamm. Während der gesamten Achtzigerjahre erforschten Wissenschaftler mithilfe von HeLa und anderen Zellen die HPV-Infektion und den Mechanismus, durch den sie Krebs verursacht. Wie sich dabei herausstellte, baut HPV seine DNA in die DNA der Wirtszelle ein, und dort produziert sie dann Proteine, die den Krebs entstehen
lassen. Außerdem fand man heraus, dass die Zellen aus einem Gebärmutterhalskrebs nicht mehr krebsartig sind, wenn man die HPV-DNA blockiert. Diese Entdeckungen trugen zur Entwicklung eines HPV-Impfstoffs bei und brachten zur Hausen schließlich den Nobelpreis ein.
Durch die HPV-Forschung erfuhr man zudem, wie Henriettas Krebserkrankung begonnen hatte: HPV hatte seine DNA in den langen Arm ihres elften Chromosoms eingebaut und damit das Tumorsuppressorgen p53 ausgeschaltet. Ungeklärt ist bisher allerdings die Frage, warum dieser Vorgang innerhalb und außerhalb von Henriettas Körper so ungeheuer virulente Zellen entstehen ließ. Eigentlich gehören nämlich Gebärmutterhalskrebszellen zu denen, die sich in Kulturen am schwierigsten züchten lassen.
Fünfzig Jahre nachdem Howard Jones den Tumor an Henriettas Gebärmutterhals entdeckt hatte, unterhielt ich mich mit ihm. Er war jetzt Anfang 90 und hatte viele tausend Fälle von Gebärmutterhalskrebs gesehen. Als ich ihn aber fragte, ob er sich an Henrietta erinnern könne, lachte er und sagte: »Diesen Tumor habe ich nie vergessen. Der war anders als alles, was mir sonst je begegnet ist.«
Ich unterhielt mich mit vielen Wissenschaftlern über die HeLa-Zellen, aber keiner konnte mir erklären, warum sie so sehr wachsen, während viele andere nicht einmal überleben. Heute kann man Zellen unsterblich machen, indem man sie bestimmten Viren oder Chemikalien aussetzt, aber nur die wenigsten Linien sind wie die von Henrietta von selbst unsterblich geworden.
Henriettas
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