Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
medizinische Skandal«).
In der Familie Lacks kann sich niemand daran erinnern, wie sie von Golds Buch erfuhren, aber als Deborah es in die Hand bekam, blätterte sie es schnell durch und suchte nach ihrer Mutter. Ganz vorn im Buch fand sie das Foto von Henrietta mit den Händen in den Hüften, und am Ende des ersten Kapitels stand ihr Name. Dann las sie sich den Abschnitt mit vor Aufregung zitternder Stimme laut vor:
Es waren alles die Zellen einer Amerikanerin, die sich vermutlich während ihres ganzen Lebens nicht weiter als ein paar Kilometer von ihrer Wohnung in Baltimore in Maryland entfernt hatte … Ihr Name war Henrietta Lacks.
In dem nachfolgenden zehnseitigen Kapitel zitierte Gold ausführlich aus ihrer Krankenakte: die Blutflecken in der Unterwäsche, die Syphilis, ihr schneller gesundheitlicher Verfall. Niemand aus Henriettas Familie hatte diese Akten je gesehen, und erst recht hatte niemand dem Hopkins die Genehmigung erteilt, sie an einen Journalisten für die Veröffentlichung in einem Buch weiterzugeben, das die ganze Welt lesen konnte. Als Deborah die Seiten umblätterte, stieß sie unversehens auf Einzelheiten über den Tod ihrer Mutter: quälende Schmerzen,
Fieber und Erbrechen; Giftstoffe, mit denen sich ihr Blut angereichert hatte; ein Arzt, der schrieb: »Absetzen aller Medikamente und Therapien mit Ausnahme der Schmerzmittel«; und die Zerstörung von Henriettas Körper bei der Obduktion:
Die Arme der Toten hatte man nach oben und hinten gezogen, so dass der Pathologe Zugang zum Brustkorb hatte … der Körper war in der Mitte aufgeschnitten und weit geöffnet … Die Leiche war mit… weißlichgrauen Tumorknoten angefüllt. Es sah aus, als sei das Körperinnere mit Perlen besetzt. In Ketten lagen sie auf der Oberfläche von Leber, Zwerchfell, Dünndarm, Blinddarm, Enddarm und Herz. Dicke Haufen von ihnen befanden sich auf den Eierstöcken und Eileitern. Am schlimmsten war es im Blasenbereich: Er war von einer festen Masse aus Krebsgewebe bedeckt.
Nachdem Deborah diesen Absatz gelesen hatte, brach sie zusammen. Mehrere Tage und Nächte lang weinte sie und malte sich aus, welche Schmerzen Henrietta erlitten haben musste. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie den in der Mitte gespaltenen Körper ihrer Mutter mit den verbogenen Armen und den vielen Tumoren vor sich. Sie konnte nicht mehr schlafen und war auf das Hopkins bald ebenso wütend wie ihre Brüder. Nachts blieb sie auf und fragte sich: Wer hat dem Reporter die Krankenakten meiner Mutter gegeben? Lawrence und Zakariyya glaubten, Michael Gold müsse mit George Gey oder irgendeinem anderen Arzt der Klinik verwandt sein – wie sonst hätte er die Unterlagen über ihre Mutter in die Hand bekommen können?
Als ich viele Jahre später bei Michael Gold anrief, konnte er sich nicht mehr erinnern, wer ihm die Akten gegeben hatte. Er berichtete über »lange, gute Gespräche« mit Victor McKusick und Howard Jones und war sich ziemlich sicher, dass Jones ihm das
Foto von Henrietta überlassen hatte. Was die Krankenakten anging, war er sich aber nicht sicher. »Sie lagen bei irgendjemandem in der Schreibtischschublade«, erzählte er mir. »Ob das Victor McKusick oder Howard Jones war, weiß ich nicht mehr.« Als ich mich mit Jones unterhielt, konnte er sich weder an Gold noch an das Buch erinnern und bestritt, dass er oder McKusick irgendjemandem Henriettas Krankenakten ausgehändigt hatte. Dass ein Journalist medizinische Informationen veröffentlicht, die er von einem Informanten erhalten hat, ist nicht illegal; es aber zu tun, ohne sich mit den Angehörigen der betreffenden Person in Verbindung zu setzen, sie zu befragen, Inhalte zu überprüfen und ihnen mitzuteilen, dass solche privaten Informationen veröffentlicht werden sollen, kann man sicher als problematisch bezeichnen. Als ich mich bei Gold erkundigte, ob er sich um ein Gespräch mit der Familie Lacks bemüht habe, antwortete er: »Ich glaube, ich habe ein paar Briefe geschrieben und ein paar Mal angerufen, aber offenbar waren die Adressen und Telefonnummern nie aktuell. Und um ehrlich zu sein, die Familie stand nicht im Mittelpunkt meines Interesses … ich habe nur gedacht, sie könnte die wissenschaftliche Geschichte ein bisschen farbiger gestalten.«
Auf keinen Fall aber war es üblich, dass ein Arzt Patientenakten an Journalisten weitergab. Die ärztliche Schweigepflicht ist schon seit Jahrhunderten ein ethisches Grundprinzip: Der Hippokratische Eid, den die meisten
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