Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
auf dem Tabakfeld Ihrer Mutter neben dem Home-House«, erzählte ich ihr dann zum Beispiel. »Ich sitze hier mit Vetter Cliff auf der Terrasse, er lässt Sie schön grüßen.« »Heute habe ich den Eintrag über die Taufe Ihrer Mutter gefunden.« »Tante Gladys geht es nach dem Schlaganfall ziemlich gut. Sie hat mir ein paar tolle Geschichten über Ihre Mama erzählt.« Ich malte mir aus, wie Deborah sich über ihren Anrufbeantworter beugte und nur allzu gern gewusst hätte, was ich herausgefunden hatte.
Aber sie nahm nie ab.
Eines Tages ging ihr Mann, Reverend James Pullum, beim zweiten Klingeln ans Telefon und fing an zu schreien, ohne hallo zu sagen: »Sie wollen die Sicherheit, dass sie eine FINANZIELLE WIEDERGUTMACHUNG bekommen. Solange nicht jemand ein ABKOMMEN schließt oder das SCHRIFTLICH festhält, werden sie mit NIEMANDEM mehr reden. Alle haben irgendetwas bekommen, nur sie nicht, und dabei war es ihre MUTTER. Das finden sie einfach falsch. Für meine Frau war es echt
ein langer Weg, und sie hat sich wirklich darauf eingelassen. Früher wollte sie nur, dass John Hopkin ihre Mutter anerkennt und dieses Zeug mit den Zellen so erklärt, dass sie versteht, was mit ihrer Mutter passiert ist. Aber die haben uns links liegen gelassen, und jetzt sind wir einfach sauer.« Dann legte er auf. Ein paar Tage später, zehn Monate nach unserem ersten Gespräch, rief Deborah mich an. Als ich mich meldete, rief sie: »Also schön, ich rede mit Ihnen!« Und sie erklärte: »Wenn ich das mache, müssen Sie mir ein paar Sachen versprechen. Erstens, wenn meine Mutter in der Wissenschaft so berühmt ist, müssen Sie allen sagen, wie sie wirklich geheißen hat. Sie war nich Helen Lane. Und zweitens sagen alle immer, dass Henrietta Lacks vier Kinder hatte. Das stimmt aber nich,’s waren fünf. Meine Schwester is gestorben, und es kommt gar nich infrage, dass sie in dem Buch weggelassen wird. Ich weiß, dass Sie allen die Geschichte von den Lacks erzählen werden, und das sind gute und schlechte Sachen, was meine Brüder angeht. Sie werden das alles erfahren, is mir egal. Mir geht es nur darum, dass Sie rausfinden, was mit meiner Mutter und meiner Schwester passiert is, das muss ich einfach wissen.«
Sie holte tief Luft, dann lachte sie.
»Mach dich auf was gefasst, Mädel«, sagte sie. »Du hast nämlich keine Ahnung, auf was du dich da einlässt.«
Am 9. Juli 2000 traf ich mich in einer Pension in der Nähe des Hafens von Baltimore mit Deborah. Das Viertel hieß Fell’s Point. Als sie mich wartend in der Lobby stehen sah, deutete sie auf ihre Haare und sagte: »Sehen Sie das? Ich bin ganz grau geworden, weil ich mir so viel Sorgen um unsere Mutter gemacht hab. Deshalb hab ich im letzten Jahr auch nich mit Ihnen geredet. Ich hab mir geschworen, dass ich nie wieder mit jemand über meine Mutter rede.« Sie seufzte. »Aber jetzt bin ich da … Ich hoffe, Sie bereuen es nich.«
Deborah war eine gewichtige Frau, ungefähr 1,50 Meter groß und 90 Kilo schwer. Ihre kleinen Locken waren nicht länger als zwei Zentimeter und kohlrabenschwarz mit Ausnahme einer dünnen naturgrauen Strähne, die ihr Gesicht einrahmte wie ein Stirnband. Sie war 50, wirkte aber zugleich zehn Jahre älter und zehn Jahre jünger. Ihre glatte hellbraune Haut war mit großen Flecken und Pickeln übersät, die Augen waren hell und spitzbübisch. Sie trug eine Caprihose und Segeltuchschuhe, bewegte sich langsam und stützte sich auf einen Spazierstock aus Aluminium.
Sie folgte mir in mein Zimmer. Auf dem Bett lag ein großes, flaches Paket, das in buntes, geblümtes Geschenkpapier eingewickelt war. Ich erklärte ihr, dies sei ein Geschenk von Christoph Lengauer, einem jungen Krebsforscher am Hopkins. Er hatte mir ein paar Monate zuvor in einer E-Mail auf einen Artikel geantwortet, den ich nach einem Gespräch mit den Männern der Familie Lacks im Johns Hopkins Magazine veröffentlicht hatte. »Irgendwie hatte ich gegenüber der Familie Lacks ein schlechtes Gewissen«, schrieb Lengauer. »Sie hätten etwas Besseres verdient.«
Wie er weiter berichtete, hatte er während seiner ganzen bisherigen beruflichen Laufbahn Tag für Tag mit HeLa-Zellen gearbeitet, und jetzt ging ihm die Geschichte über Henrietta und ihre Familie nicht mehr aus dem Kopf. Als Doktorand hatte er mithilfe der HeLa-Zellen an der Entwicklung der so genannten Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung oder kurz FISH mitgearbeitet, einer Methode zur Färbung von Chromosomen mit mehrfarbigen
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