Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Bild.«
Bevor Lurz, den kahlköpfigen Mann im Schlepptau, zum Fotokopieren ging, reichte er mir einen Stapel Fotos und Unterlagen, die ich durchsehen konnte, während er weg war. Das erste Dokument auf dem Stapel war ein Artikel der Washington Post aus dem Jahr 1958, drei Jahre nach Elsies Tod. Die Schlagzeile lautete:
ÜBERFÜLLTES KRANKENHAUS »VERLIERT« HEILBARE PATIENTEN
Personalmangel in Crownsville macht sie zu chronisch Kranken
Sobald ich die Überschrift gelesen hatte, legte ich den Artikel mit der Schrift nach unten auf meinen Schoß. Einen kurzen Augenblick dachte ich daran, ihn Deborah nicht zu zeigen. Ich dachte, ich sollte ihn vielleicht zuerst lesen, so dass ich sie auf die schrecklichen Dinge vorbereiten konnte, die wir daraus vielleicht erfahren würden. Aber sie riss ihn mir aus der Hand und las die Überschrift laut vor. Dann blickte sie mit glasigen Augen auf.
»Das ist ja nett«, sagte sie und deutete auf eine große Abbildung, die eine Gruppe von Männern in verschiedenen Stadien der Verzweiflung zeigte: Sie hielten sich den Kopf, lagen auf dem Fußboden oder kauerten in einer Ecke. »Das möchte ich für meine Wohnzimmerwand haben.« Sie gab mir den Zeitungsausschnitt wieder und bat mich, ihn vorzulesen.
»Bist du sicher?«, fragte ich. »Da drin werden vermutlich
ziemlich ärgerliche Dinge stehen. Soll ich es zuerst lesen und dir dann erzählen, was da steht?«
»Nein«, schnaubte sie. »Der hat uns ja schon gesagt, dass die kein Geld hatten, um schwarze Leute zu versorgen.« Sie stellte sich hinter mich und sah mir beim Lesen über die Schulter, dann musterte sie die Seite und zeigte auf mehrere Worte: »Grausig?«, sagte sie. »Fürchterliche Stationen für Schwarze?« Im Crownsville, wo Elsie gestorben war, hatten viel schlimmere Verhältnisse geherrscht, als Deborah es sich jemals vorgestellt hatte. Patienten kamen aus einer benachbarten Einrichtung dicht gedrängt in einem Eisenbahnwagen an. In Elsies Todesjahr 1955 hatte die Zahl der Insassen in Crownsville den Rekordwert von über 2700 Patienten erreicht, fast 800 mehr als die maximale Aufnahmekapazität der Klinik. Im Jahr 1948 – dem einzigen Jahr, für das Zahlen verfügbar waren – kam in Crownsville durchschnittlich ein Arzt auf 225 Patienten, und die Sterblichkeit war weitaus höher als die Zahl der Entlassungen. Die Patienten waren in schlecht belüfteten Zellenblöcken eingeschlossen, in denen Abflüsse im Boden die Toiletten ersetzten. Farbige Männer, Frauen und Kinder, die an allen möglichen Krankheiten von Demenz und Tuberkulose über »Nervosität« und »mangelndes Selbstbewusstsein« bis zu Epilepsie litten, wurden in jedem nur vorstellbaren Winkel untergebracht, auch in fensterlosen Kellerräumen und auf eingezäunten Veranden. Wenn sie überhaupt Betten hatten, schliefen sie in der Regel zu zweit oder mehreren auf Doppelmatratzen, die Kopf an Fuß lagen, so dass sie gezwungen waren, über ein Meer aus schlafenden Körpern zu ihren Betten zu kriechen. Die Insassen wurden weder nach Alter noch nach Geschlecht getrennt, und sexuelle Übergriffe waren an der Tagesordnung. Aufmüpfige Patienten wurden an ihre Betten gefesselt oder in separaten Räumen eingeschlossen.
Wie ich später erfuhr, nahmen Wissenschaftler in der Zeit, als
Elsie in Crownsville war, häufig Forschungsarbeiten an Patienten ohne deren Einwilligung vor, so zum Beispiel eine Studie mit dem Titel »Pneumoenzephalographische und Schädel-Röntgenuntersuchungen an 100 Epileptikern«. Die Pneumoenzephalographie war eine 1919 entwickelte Methode, mit der man Bilder des Gehirns, das ja in einer Flüssigkeit schwimmt, anfertigte. Diese Flüssigkeit schützt es vor Schäden, erschwert aber auch Röntgenaufnahmen, weil die durch die Flüssigkeit hindurch aufgenommenen Bilder verschwommen aussehen. Bei der Pneumoenzephalographie bohrte man Löcher in den Schädel der Versuchspersonen, ließ die das Gehirn umgebende Flüssigkeit ab und pumpte an ihrer Stelle Luft oder Helium in den Schädel; auf diese Weise erhielt man durch den Schädel hindurch scharfe Röntgenaufnahmen des Gehirns. Die Nebenwirkungen – quälende Kopfschmerzen, Benommenheit, Krampfanfälle und Erbrechen – hielten so lange an, bis der Organismus von sich aus den Schädel wieder mit Gehirnflüssigkeit gefüllt hatte, was in der Regel zwei bis drei Monate dauerte. Da die Pneumoenzephalographie zu dauerhaften Gehirnschäden und Lähmungen führen kann, gab man sie in den 1970er Jahren
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