Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
wir etwas sehen konnten. »Ich habe in einem solchen Bericht noch nie ein Bild gesehen«, flüsterte er.
Er legte das Buch wieder hin, so dass wir alle etwas sehen konnten, und plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Alle drei standen wir da, die Köpfe dicht über die Seite gebeugt, und plötzlich schrie Deborah: »Mein Baby! Sie sieht genau aus wie meine Tochter! … Sie sieht genau aus wie Davon! … Sie sieht genau aus wie mein Vater! … Sie hatte auch diese glatte Olivenhaut der Lacks.«
Lurz und ich starrten sie sprachlos an.
Auf dem Foto steht Elsie vor einer Wand, auf die Zahlen zur Größenmessung aufgemalt sind. Ihre Haare, die Henrietta früher stundenlang gekämmt und geflochten hatte, sind verfilzt und bilden eine dicke Matte, die knapp unter der 5-Fuß-Markierung hinter ihr aufhört. Die einst schönen Augen quellen aus dem Kopf, weisen leichte Blutergüsse auf und sind fast zugeschwollen. Sie starrt einen Punkt unterhalb der Kamera an und weint. Das verzerrte Gesicht ist kaum wiederzuerkennen, die Nasenöffnungen sind geschwollen und mit Schleim verklebt. Auch die Lippen sind fast auf das Doppelte ihrer normalen Größe angeschwollen und von einem breiten dunklen Ring aus rissiger Haut umgeben. Die Zunge ist dick und ragt aus dem Mund. Es sieht aus, als ob sie schreit. Der Kopf ist unnatürlich nach links verdreht, das Kinn ist angehoben und wird von zwei großen weißen Händen festgehalten. »Sie will den Kopf nich so drehen«, flüsterte Deborah. »Warum halten se se so fest?«
Niemand sagte ein Wort. Wir alle standen nur da und starrten diese großen weißen weiblichen Hände an, die sich um Elsies Hals gelegt hatten. Sie waren gut gepflegt, die kleinen Finger leicht abgespreizt – Hände, wie man sie in einem Werbespot für Nagellack sieht, die aber am Hals eines weinenden Kindes nichts zu suchen haben.
Deborah legte ihr altes Bild von der kleinen Elsie neben das neue Foto.
»Oh, sie war wunderschön«, flüsterte Lurz.
Deborah strich auf dem Foto aus Crownsville mit dem Finger über Elsies Gesicht. »Sieht aus, als würde se sich fragen, wo ich bin«, sagte sie. »Sieht aus, als würde se ihre Schwester brauchen.«
Das Foto war an der oberen Ecke von Elsies Obduktionsbericht befestigt. Lurz und ich fingen an zu lesen, wobei wir einzelne
Formulierungen laut aussprachen: »Diagnose: Schwachsinn« … »Unmittelbarer Zusammenhang mit der Syphilis« … »Sechs Monate vor ihrem Tod selbst herbeigeführtes Erbrechen, indem sie sich den Finger in den Hals steckte«. Am Ende, so hieß es in dem Bericht, »erbrach sie kaffeesatzähnliches Material« – vermutlich geronnenes Blut.
Gerade als Lurz die Worte »erbrach kaffeesatzähnliches Material« vorlas, stürmte ein kleiner, rundlicher, kahlköpfiger Mann in dunklem Geschäftsanzug ins Zimmer, sagte, ich solle aufhören, mir Notizen zu machen, und wollte wissen, was wir eigentlich hier taten.
»Dies sind die Angehörigen einer Patientin«, schnauzte Lurz. »Sie sind hier, um sich deren Krankenakten anzusehen.«
Der Mann hielt inne, sah Deborah an, dann mich: eine kleine farbige Frau über 50 und eine größere Weiße in den Zwanzigern. Deborah sah dem Mann streitlustig in die Augen. Sie griff in ihre Tasche und holte drei Papiere heraus: ihre Geburtsurkunde, Elsies Geburtsurkunde und das juristische Dokument, mit dem ihr die Handlungsvollmacht für Elsie übertragen wurde. Um dieses Papier hatte sie sich monatelang bemüht, nur für den Fall, dass irgendjemand sie genau an dem hindern wollte, was wir hier gerade taten.
Sie reichte die Papiere dem Mann, der nun nach dem Obduktionsbericht griff und zu lesen begann. Deborah und ich starrten ihn an. Wir waren beide wütend über seinen Versuch, uns zu behindern, und so erkannten wir beide nicht, dass er einer der wenigen Krankenhausmitarbeiter war, die sich jemals darum bemüht hatten, die Privatsphäre der Familie Lacks zu schützen.
»Kann Deborah eine Kopie dieses Obduktionsberichts bekommen?«, fragte ich Lurz.
»Ja«, sagte er, »wenn sie eine schriftliche Anforderung einreicht.« Er nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch und gab es Deborah.
»Was soll ich schreiben?«, fragte sie.
Lurz begann zu diktieren: »Ich, Deborah Lacks …«
Wenige Minuten später hatte sie auf einem abgerissenen Blatt Papier die offizielle Anforderung der Krankenakte formuliert. Sie überreichte Lurz das Schreiben und sagte: »Ich brauche auch eine gute vergrößerte Kopie von diesem
Weitere Kostenlose Bücher