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Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks

Titel: Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Skloot
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LASS sie fort! Ich kann es nicht mehr tragen, o Herr. Du wolltest, dass ich sie Dir gebe, und ich wollte es einfach nicht, aber jetzt kannst Du sie haben, o Herr. Du kannst SIE HABEN! Halleluja, Amen.«
    Zum ersten Mal, seit Gary von seinem Stuhl aufgestanden war, sah er mich direkt an.
    Ich hatte alles von einem Sessel aus etwas mehr als einem Meter Entfernung verfolgt. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, hatte Angst, mich zu bewegen oder Lärm zu machen, und kritzelte hektisch Notizen. In jeder anderen Situation hätte ich das Ganze für völlig verrückt gehalten. Aber was in diesem Augenblick zwischen Gary und Deborah ablief, war das am wenigsten Verrückte, was ich an diesem Tag gesehen hatte. Während ich ihnen zusah, hatte ich nur einen Gedanken: Mein Gott … das habe ich ihr angetan .
    Gary sah mir in die Augen, während er Deborahs schluchzenden Körper umarmte und ihr zuflüsterte: »Du bist nicht allein.«
    Dann sah er mich an und sagte: »Sie kann die Last dieser Zellen
nicht mehr tragen, lieber Gott! Sie schafft es nicht!« Schließlich hob er die Arme über Deborahs Kopf und rief: »O HERR, ICH WEISS, du hast Miss Rebecca geschickt, damit sie hilft, die LAST DER ZELLEN von uns zu NEHMEN!« Er streckte mir die Arme entgegen. »GIB SIE IHR!«, rief er. »LASS SIE ES TRAGEN.«
    Ich saß da wie gelähmt, starrte Gary an und dachte: Moment mal, ganz so geht das aber auch nicht!
    Deborah befreite sich aus Garys Umarmung, schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen und rief: »Puh!« Dann mussten beide lachen. »Danke, Cuz« sagte sie, »jetzt fühl ich mich ganz leicht!«
    »Manche Dinge muss man loslassen«, sagte Gary. »Je mehr du sie festhältst, desto schlechter geht es dir. Wenn du sie loslässt, gehen sie woanders hin. Die Bibel sagt, das Er all diese Last tragen kann.«
    Sie streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht. »Du weißt immer, was ich brauch. Du weißt, wie du dich um mich kümmern musst.«
    »Eigentlich sehe nicht ich es, sondern Er sieht es«, sagte Gary und lächelte. »Ich weiß gar nicht, was da alles aus meinem Mund gekommen ist. Es war der Herr, der zu dir gesprochen hat.«
    »Na ja, halleluja«, sagte Deborah und kicherte. »Ich komm morgen wieder, dann will ich mehr davon! Amen!«
    Draußen nieselte es schon seit Stunden, jetzt aber trommelte der Regen plötzlich auf das Blechdach und verwandelte sich in Hagel. Er war so laut, dass es sich wie Applaus anhörte. Zu dritt gingen wir zur Haustür und blickten nach draußen.
    »Das ist der Herr, der uns sagt, dass Er uns gehört hat«, sagte Gary und lächelte. »Er hat den Wasserhahn aufgedreht, um dich reinzuwaschen, Cuz!«
    »Gelobt sei der Herr!«, rief Deborah.

    Gary umarmte sie zum Abschied, dann umarmte er auch mich. Deborah griff nach ihrem langen schwarzen Regenmantel, breitete ihn aus und legte sich ihn über den Kopf. Dann bedeutete sie mir mit einem Nicken, ich solle zu ihr unter den Mantel kommen. Sie bedeckte unser beider Köpfe, dann legte sie den Arm um meine Schultern.
    »Bist du bereit für ein bisschen Seelenreinigung?«, rief sie und öffnete die Tür.

36
    Himmelskörper
    A m nächsten Morgen war Deborahs Ausschlag ein wenig zurückgegangen, aber ihre Augen waren immer noch geschwollen. Deshalb entschloss sie sich, nach Hause zu fahren und ihren Arzt aufzusuchen. Ich blieb in Clover, denn ich wollte noch mit Gary über den gestrigen Abend sprechen. Als ich sein Wohnzimmer betrat, stand er in einem leuchtend türkisfarbenen Hemd auf einem Plastikklappstuhl und wechselte eine Glühbirne.
    »Mir geht dieses wunderschöne Lied einfach nicht aus dem Kopf«, sagte ich. »Ich singe es schon den ganzen Vormittag.« Dann summte ich ein paar Takte: Willkommen an diesem Ort… Willkommen in diesem zerbrochenen Gefäß .
    Gary sprang vom Stuhl, lachte und sah mich mit erhobenen Augenbrauen an.
    »Was glauben Sie wohl, warum sich das in Ihrem Kopf festgesetzt hat?«, fragte er. »Ich weiß, Sie denken nicht gern daran, aber das ist der Herr, und der will Ihnen etwas sagen.«
    Er erklärte, es sei ein Kirchenlied. Dann eilte er aus dem Wohnzimmer und kam mit einer weich eingebundenen blauen Bibel zurück, über deren Vorderseite sich große goldene Lettern zogen. »Das möchte ich Ihnen schenken«, sagte er und drückte mit dem Finger auf den Buchumschlag. »Er ist für uns gestorben, auf dass wir das ewige Leben haben. Viele Leute glauben das nicht. Aber man kann tatsächlich das ewige Leben haben. Sehen Sie sich nur

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