Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
reisen. Eine knappe Stunde später flog die erste Maschine in das World Trade Center. Ein befreundeter Journalist rief mich auf dem Handy an, berichtete mir, was geschehen war, und sagte: »Fahr nicht nach Washington, dort bist du nicht sicher.« Gerade als das zweite Flugzeug einschlug, wendete ich mein Auto, und als ich nach Hause kam, gab es im Fernsehen bereits Berichte über die Schäden im Pentagon. Überall in Washington hatte man Gebäude evakuiert, auch das Ronald Reagan Building, wo eigentlich der Tagungsempfang zu Ehren von Henrietta stattfinden sollte.
Als ich Deborah anrief, war sie in Panik. »Das ist wieder ganz genau wie bei Pearl Harbor«, sagte sie. »Und Oklahoma. Ich fahr jetzt auf keinen Fall nach Washington.« Das war aber auch nicht nötig. Da alle Flüge gestrichen waren und Washington lahmgelegt, sagte die NFCR die Henrietta-Lacks-Tagung ab. Ein neuer Termin wurde nicht vereinbart.
Während der nächsten Tage sprach ich viele Male mit Deborah. Gemeinsam bemühten wir uns darum, irgendeinen Sinn in den Anschlägen zu erkennen, und Deborah versuchte sich mit dem Gedanken abzufinden, dass die Konferenz abgesagt war. Sie war deprimiert und befürchtete, es werde noch einmal zehn Jahre dauern, bevor jemand ihre Mutter ehren würde.
Am Sonntagmorgen, fünf Tage nach dem 11. September, ging Deborah in die Kirche. Sie betete einerseits für Alfred, dessen Prozess in wenigen Tagen stattfinden sollte, und andererseits um einen neuen Termin für die Henrietta-Lacks-Tagung. Im roten Hosenanzug saß sie in der vordersten Kirchenbank, die Hände im Schoß gefaltet, und hörte zu, wie ihr Mann über den 11. September predigte. Ungefähr eine Stunde nach Beginn des Gottesdienstes merkte Deborah auf einmal, dass sie ihren Arm nicht mehr bewegen konnte.
Davon, der mittlerweile neun Jahre alt war, saß immer im Chor und konnte seine Großmutter während des Gottesdienstes beobachten. Als ihr Gesicht schlaff wurde und ihr Körper zusammensank, glaubte er zunächst, sie habe vielleicht versehentlich ihre Schlaftablette genommen, bevor sie in die Kirche ging. Deborah sah, dass er seine Äuglein auf sie gerichtet hatte, und versuchte, ihm ein Zeichen zu geben; sie wollte ihm mitteilen, dass mit ihr etwas nicht stimmte, konnte sich aber nicht rühren.
Als der Gottesdienst zu Ende war, stand die Gemeinde auf, und Deborahs Mund verzerrte sich. Davon rief: »Mit meiner Oma is irgendwas!« Er verließ das Chorpodest und rannte auf
sie zu. Da stürzte Deborah nach vorn und fiel auf ein Knie. »Opa! Opa!«, schrie Davon. Pullum warf nur einen Blick auf seine Frau und rief: »Schlaganfall!«
Als Davon das Wort Schlaganfall hörte, griff er nach Deborahs Handtasche, wühlte die Autoschlüssel heraus und lief zum Wagen. Er riss alle Türen weit auf, legte den Beifahrersitz so weit wie möglich in Liegeposition und sprang hinters Lenkrad. Seine Füße reichten nicht bis an die Pedale. Dennoch startete er den Motor, so dass Pullum nur einsteigen musste und dann sofort losfahren konnte.
Während Deborah auf dem Beifahrersitz immer wieder in Ohnmacht fiel, beugte Davon sich über sie und rief: »Du darfst jetzt nicht einschlafen, Oma!« Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, verpasste er ihr eine Ohrfeige. Pullum schrie immer wieder, er solle damit aufhören. »Mensch, Junge, du bringst deine Oma noch um!« Aber Davon hörte nicht auf.
Als sie die Feuerwache erreichten, holten Sanitäter Deborah aus dem Auto, gaben ihr Sauerstoff und Spritzen, legten eine Infusion und verluden sie in einen Krankenwagen. Als der wegfuhr, sagte ein Feuerwehrmann zu Davon, es sei sehr klug von ihm gewesen, Deborah vom Einschlafen abzuhalten. »Junge, da hast du deiner Großmutter aber einen großen Gefallen getan«, sagte der Feuerwehrmann. »Du hast ihr nämlich gerade das Leben gerettet.«
Einer der ersten Sätze, die Deborah sprach, als sie wieder bei Bewusstsein war, lautete: »Ich muss einen Test machen.« Das Pflegepersonal glaubte, sie meine damit eine Computertomografie oder eine Blutuntersuchung, aber sie sprach vom Einstufungstest in der Schule.
Als die Ärzte endlich Deborahs Angehörige zu ihr ließen, marschierten Davon, Pullum und Deborahs Tochter Tonya im Gänsemarsch zu ihr. Sie fanden die Patientin mit weit aufgerissenen
Augen im Bett sitzen. Sie war erschöpft, aber am Leben. Ihre linke Körperhälfte war noch schwach, und sie konnte die Arme nicht gut bewegen, aber die Ärzte erklärten, sie habe Glück gehabt und
Weitere Kostenlose Bücher