Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Bluse an und zeigte Margaret und Sadie, was die Therapie bei ihr angerichtet hatte. Sadie schnappte nach Luft: Henriettas Haut war aufgrund der Bestrahlung von der Brust bis zum Becken schwarz verbrannt. Der übrige Körper hatte seine natürliche Farbe behalten, die eher rehbraun war als besonders dunkel. »Hennie«, flüsterte sie, »die haben dich ja rabenschwarz verbrannt.«
Henrietta nickte nur und sagte: »Du lieber Gott, es fühlt sich an, als wäre auch da drin alles schwarz.«
6
»Da is’ne Frau am Telefon«
A n meinem 27. Geburtstag, elf Jahre nachdem ich in Deflers Unterricht zum ersten Mal etwas über Henrietta erfahren hatte, stieß ich auf eine Sammlung wissenschaftlicher Fachartikel von einer Tagung namens »The HeLa Cancer Control Symposium« an der Morehouse School of Medicine in Atlanta, einer der ältesten »schwarzen« Hochschulen des Landes. Die Tagung zu Henriettas Ehren hatte Roland Pattillo organisiert, ein Professor für Gynäkologie an der Morehouse School und einer der wenigen afroamerikanischen Studenten von Gey. Ich rief ihn an, um mich zu erkundigen, was er über Henrietta wusste. Dabei erzählte ich ihm, dass ich ein Buch über sie schreiben wollte.
»Ach, wirklich?«, sagte er, und sein verhaltenes, dumpfes Lachen verriet mir, dass er sagen wollte: Mädchen, du hast ja keine Ahnung, was du dir da vorgenommen hast. »Henriettas Angehörige werden nicht mit Ihnen reden. Die hatten schon schrecklichen Ärger wegen der HeLa-Zellen.«
»Sie kennen ihre Familie?«, fragte ich. »Können Sie mich mit ihnen bekannt machen?«
»Ich könnte den Kontakt herstellen, aber dazu müssten Sie mir zunächst ein paar Fragen beantworten. Die erste lautet: Warum sollte ich?«
In der nächsten Stunde fühlte Pattillo mir gründlich auf den Zahn. Als ich ihm erzählte, wie es zu meiner HeLa-Zellen-Obsession gekommen war, grunzte und seufzte er. Hin und wieder ließ er ein mmmmm oder na jaaaa hören.
Schließlich sagte er: »Korrigieren Sie mich, wenn ich unrecht habe, aber Sie sind doch Weiße, oder?«
»Ist das so klar?«
»Ja«, erwiderte er. »Was wissen Sie über Afroamerikaner und die Wissenschaft?«
Ich erzählte ihm von der Syphilisstudie von Tuskegee, als würde ich im Geschichtsunterricht ein Referat halten. Es hatte in den Dreißigerjahren begonnen. Wissenschaftler des US-Gesundheitsministeriums am Tuskegee Institute wollten untersuchen, wie man an Syphilis stirbt, den ganzen Ablauf von der Ansteckung bis zum Tod. Sie rekrutierten Hunderte von syphiliskranken Afroamerikanern und sahen zu, wie sie langsam und qualvoll verreckten – und das auch dann noch, als klar war, dass man ihr Leben mit Penizillin hätte retten können. Die Versuchspersonen stellten keine Fragen. Sie waren arm und ungebildet, und die Wissenschaftler boten ihnen Anreize: kostenlose Untersuchungen, warme Mahlzeiten, freie Beförderung an den Krankenhaustagen und im Todesfall ein Bestattungsgeld von 50 Dollar für die Familie. Die Wissenschaftler wählten Farbige als Versuchspersonen, weil sie wie viele Weiße zu jener Zeit glaubten, Schwarze seien eine »notorisch syphilisverseuchte Rasse«.
An die Öffentlichkeit gelangte die Tuskegee-Studie erst in den Siebzigerjahren, als bereits mehrere hundert Teilnehmer gestorben waren. Die Nachricht verbreitete sich in der Gemeinschaft der Farbigen wie ein Lauffeuer: Ärzte stellten Experimente mit Schwarzen an, belogen sie und sahen zu, wie sie starben. Gerüchte machten die Runde, die Ärzte hätten den Männern sogar Syphiliserreger gespritzt, um sie später untersuchen zu können.
»Und was sonst noch?«, grummelte Pattillo.
Ich erzählte ihm, ich hätte von den so genannten Mississippi-Appendektomien gehört, unnötigen Eingriffen, bei denen man farbigen Frauen die Gebärmutter herausgenommen hatte, damit sie keine Kinder mehr bekamen und die Ärzte Gelegenheit
hatten, die Operation zu üben. Außerdem hatte ich gelesen, dass für die Erforschung der Sichelzellenanämie, einer Krankheit, von der fast ausschließlich Farbige betroffen sind, keine finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt wurden.
»Interessant, dass Sie ausgerechnet jetzt anrufen«, sagte er.
»Ich organisiere gerade die nächste HeLa-Konferenz, und als das Telefon klingelte, hatte ich mich gerade an meinen Computer gesetzt und die Worte Henrietta Lacks geschrieben.« Wir mussten beide lachen. Das, so sagten wir, könne doch eigentlich nur ein gutes Omen sein. Vielleicht wollte Henrietta ja, dass
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