Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
umgebracht und die weißen Ärzte hätten mit ihr Versuche gemacht, weil se’ne Schwarze war.«
»Ich hatte’nen Nervenzusammenbruch«, fuhr sie fort. »Ich hab das einfach nich mehr ausgehalten. Jetzt kann ich wieder’n bisschen besser sprechen. Ich hätte in zwei Wochen zweimal fast’n Schlaganfall gehabt wegen dem ganzen Kram mit den Zellen von meiner Mutter.«
Dann sprach sie plötzlich von ihrer Familiengeschichte, erzählte von dem »Krankenhaus für verrückte Neger« und dass der Urgroßvater ihrer Mutter ein Sklavenhalter gewesen sei. »Wir sind alle gemischt. Und eine Schwester von meiner Mutter is Puertoricanerin geworden.«
Immer und immer wieder sagte sie: »Ich halt das nich mehr aus« oder »Wem sollen wir denn jetzt noch trauen?« Wie sie mir erklärte, wollte sie vor allem mehr über ihre Mutter erfahren und Genaueres darüber wissen, welche Dienste ihre Zellen der Wissenschaft erwiesen hatten. Sie sagte, die Leute hätten ihr schon seit Jahrzehnten neue Informationen versprochen, sie aber nie geliefert. »Ich hab die Nase voll davon«, sagte sie. »Wissen Se, was ich wirklich will? Ich will wissen, wie meine Mutter gerochen hat. Schon mein ganzes Leben lang weiß ich überhaupt nix, nich mal die ganz normalen kleinen Sachen, zum Beispiel welches ihre Lieblingsfarbe war. Hat se gern getanzt? Hat se mich gestillt? Du lieber Gott, das würd ich gerne wissen. Aber mir hat ja nie einer was gesagt.«
Sie lachte und fügte hinzu: »Eins kann ich Ihnen sagen: Die Geschichte ist noch nich vorbei. Für Sie ist noch genug Arbeit übrig. Das Ding is so verrückt, das reicht für drei Bücher!« Dann kam jemand durch ihre Haustür, und Deborah schrie direkt in den Hörer: »Guten Morgen! Was? Ich hab Post?« Schon der Gedanke schien sie in Panik zu versetzen. »Du lieber Gott! O nein! Doch keine Post?«
»Na gut, Miss Rebecca«, sagte sie. »Ich muss jetzt los. Sie können mich am Montag wieder anrufen, okay? Alles klar. Alles Gute. Bye-bye.«
Sie legte auf, und ich saß da wie vor den Kopf gestoßen. Den Hörer noch an den Hals geklemmt, kritzelte ich Notizen, die ich nicht verstand, beispielsweise Bruder = Mörder, Post = schlecht, Mann hat Henriettas Krankenakte gestohlen und Krankenhaus für verrückte Neger?
Als ich Deborah wie verabredet das nächste Mal anrief, hörte sie sich wie ein vollkommen anderer Mensch an. Ihre Stimme klang monoton, deprimiert und verwaschen, als hätte sie starke Beruhigungsmittel genommen.
»Keine Interviews«, murmelte sie nahezu zusammenhanglos.
»Sie müssen abhauen. Meine Brüder sagen, ich soll selbst ein Buch schreiben. Aber ich bin keine Schriftstellerin. Tut mir leid.«
Ich wollte etwas sagen, aber sie fiel mir ins Wort: »Ich kann nich mehr mit Ihnen reden. Sie müssen erst die Männer überzeugen.« Sie gab mir drei Telefonnummern: von ihrem Vater, ihrem ältesten Bruder Lawrence und den Pager von ihrem Bruder David Jr. »Alle nennen ihn Sonny«, sagte sie noch, dann legte sie auf. Fast ein Jahr lang sollte ich ihre Stimme nicht mehr hören.
Von nun an rief ich jeden Tag bei Deborah, ihren Brüdern und ihrem Vater an, aber sie meldeten sich nicht. Nachdem ich mehrmals Nachrichten hinterlassen hatte, nahm bei Day schließlich jemand ab: ein kleiner Junge, der nicht einmal hallo sagte, sondern nur in den Hörer atmete, während im Hintergrund Hiphop wummerte.
Als ich nach David fragte, sagte der Junge »Yeah« und warf das Telefon auf den Tisch.
»Hol mal Papa!«, schrie er. Dann folgte eine lange Pause. »Es is wichtig. Hol den Papa!«
Keine Antwort.
»Da is’ne Frau am Telefon«, rief er, »na los, mach schon!«
Der erste Junge atmete wieder in den Hörer. Da nahm ein zweiter am Nebenanschluss ab und sagte hallo.
»Hi«, sagte ich, »kann ich mit David sprechen?«
»Wer is da?«, fragte er.
»Rebecca.«
Er hielt den Hörer von seinem Mund weg und schrie: »Los,
hol den Papa, am Telefon is die Frau wegen den Zellen von seiner Frau!«
Erst Jahre später begriff ich, woher ein kleiner Junge allein am Klang meiner Stimme wissen konnte, warum ich anrief: Weiße riefen immer nur dann bei Day an, wenn es irgendwie mit den HeLa-Zellen zu tun hatte. Aber damals war ich verwirrt – ich dachte, ich müsse mich verhört haben.
Eine Frau nahm den Hörer und sagte: »Hallo, was kann ich für Sie tun?« Ihre Stimme klang scharf und kurz angebunden, als wollte sie sagen: Ich habe dafür keine Zeit .
Ich erklärte, ich wolle eigentlich mit David
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