Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
der ersten Wochen in der Großstadt nicht verliefen. Sie hatte ihnen Fresspakete gepackt, bis sie auf eigenen Füßen standen, und dann hatte sie Day Extra-Lebensmittelportionen mit zur Arbeit gegeben, damit sie zwischen den Zahltagen nicht hungern mussten. Die Männer bräuchten Frauen oder Freundinnen, hatte sie gestichelt, und einigen auch geholfen, eine gute Partnerin zu finden. Emmett hatte so
lange bei Henrietta gewohnt, dass er auf dem Flur, oben neben der Treppe, sein eigenes Bett hatte. Erst ein paar Monate zuvor war er ausgezogen.
Zum letzten Mal hatte Emmett Henrietta gesehen, als er sie zu Elsie nach Crownsville fuhr. Sie hatten das Mädchen hinter Stacheldraht in einer Ecke des Hofes vor dem Backsteinschuppen gefunden, in dem sie schlief. Als sie die beiden kommen sah, machte sie ein Geräusch wie ein Vögelchen, lief auf sie zu, stand dann einfach nur da und starrte sie an. Henrietta schlang die Arme um Elsie, sah ihr lange und durchdringend in die Augen und wandte sich dann zu Emmett.
»Sieht aus, als würd’s ihr besser gehen«, sagte Henrietta. »Ja, Elsie sieht hübsch und sauber aus und alles.« Lange saßen sie schweigend da. Henrietta wirkte erleichtert und wie befreit, als sie sah, dass mit Elsie alles in Ordnung zu sein schien. Es war das letzte Mal, dass sie ihre Tochter sah – Emmetts Überzeugung nach wusste sie, dass sie Abschied nahm. Eines aber wusste sie nicht: dass Elsie nie wieder Besuch bekommen würde.
Als Emmett ein paar Monate später dann hörte, dass Henrietta Blut brauchte, zwängte er sich mit einem Bruder und sechs Freunden in einen Lastwagen und fuhr auf kürzestem Weg zum Hopkins. Eine Krankenschwester führte sie auf der Station für Farbige an langen Reihen von Krankenbetten vorüber zu dem, in dem Henrietta lag. Sie war von 63 auf 45 Kilo abgemagert. Bei ihr saßen Sadie und Henriettas Schwester Gladys, die Augen geschwollen von zu vielen Tränen und zu wenig Schlaf. Gladys war mit dem Greyhoundbus aus Clover gekommen, sobald sie gehört hatte, dass Henrietta im Krankenhaus lag. Die beiden hatten sich nie besonders nahegestanden, und die Leute zogen Gladys immer noch damit auf, dass sie viel zu unscheinbar und hässlich sei, um Henriettas Schwester sein zu können. Aber Henrietta gehörte zur Familie, also
saß Gladys an ihrem Bett, die Hände in ein Kissen auf ihrem Schoß gekrallt.
Eine Krankenschwester stand in der Ecke und beobachtete, wie sich die acht großen Männer um das Bett drängten. Als Henrietta einen Arm bewegte und sich hochziehen wollte, sah Emmett an ihren Hand- und Fußgelenken die Gurte, mit denen sie am Bettgestell festgebunden war.
»Was macht ihr denn hier?«, stöhnte Henrietta.
»Wir kommen, damit du gesund wirst«, sagten Emmett und die anderen wie aus einem Mund.
Henrietta sagte kein Wort. Sie ließ den Kopf einfach wieder auf ihr Kissen sinken.
Plötzlich wurde ihr Körper steif wie ein Brett. Sie schrie auf. Die Schwester lief zum Bett und zog die Gurte an Henriettas Armen und Beinen fest, damit sie nicht wieder stürzte wie schon so oft. Gladys drückte ihrer Schwester das Kissen, das sie auf dem Schoß gehabt hatte, ins Gesicht, damit sie sich nicht auf die Zunge biss, während sie sich vor Schmerzen krümmte. Sadie weinte und strich Henrietta übers Haar.
»Du lieber Gott«, erzählte Emmett mir Jahre später, »sie hat sich in dem Bett aufgebäumt und geschrien, als wäre sie vom Schmerzteufel persönlich besessen«.
Die Schwester schob Emmett und seine Brüder aus der Station in das Zimmer, das für Blutspenden von Farbigen vorgesehen war. Dort spendete jeder einen halben Liter Blut. Als Emmett sich von Henriettas Bett entfernte, wandte er sich noch einmal um. Der Anfall ließ gerade nach, und Gladys nahm das Kissen von Henriettas Mund.
»Diese Erinnerung werde ich mit ins Grab nehmen«, sagte er mir viele Jahre später. »Wenn der Schmerz zugeschlagen hat, das sah aus, als würde ihr Geist sagen: Henrietta, du solltest jetzt gehen. Sie war so krank, wie ich es noch nie gesehen hatte. Das netteste Mädchen, was man sich vorstellen kann,
und schöner als alle anderen. Aber diese Zellen, mein lieber Mann, diese Zellen von ihr, das ist was anderes. Kein Wunder, dass sie sie nie umbringen konnten … Dieser Krebs war einfach schrecklich.«
Kurz nachdem Emmett und seine Freunde zu Besuch gewesen waren, am 24. September 1951 um 16 Uhr, spritzte ein Arzt Henrietta eine hohe Dosis Morphium und schrieb in ihre Krankenakte: »Alle
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