Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks

Titel: Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Skloot
Vom Netzwerk:
sie uns auf dem Rückweg immer ein Stück Mortadella mitgebracht, das durften wir Kinder uns teilen. Und manchmal, wenn wir brav waren, durften wir auch das Fett vom Speck mit einem Stück Brot auftunken.« Sein Gedächtnis für Details war bemerkenswert. Er beschrieb mir einen Pferdewagen, den Day aus vier Kanthölzern gebaut hatte, und demonstrierte mir mit einer Schnur und Papierservietten, wie er als Kind den Tabak zum Trocknen gebündelt hatte.
    Als ich ihn aber nach seiner Mutter fragte, verstummte Lawrence erst einmal. Schließlich sagte er: »Sie war sehr hübsch.« Dann redete er wieder über Tabak. Und als ich mich noch einmal nach Henrietta erkundigte, erwiderte er: »Mein Vater und seine Freunde sind auf Pferden die Lacks Town Road rauf-und runtergeritten.« Mit solchen Geschichten drehten wir uns im Kreis, bis er schließlich seufzte und mir erklärte, dass er sich eigentlich gar nicht an seine Mutter erinnern konnte. Ein Großteil seiner Teenagerjahre sei seinem Gedächtnis entfallen. »Das habe ich durch all die Trauer und die ganzen Schmerzen aus dem Kopf verdrängt«, sagte er. Und er habe auch nicht die Absicht, diese Blockade zu lösen.
    »Ich weiß nur noch, dass meine Mutter sehr streng war«, erzählte er. Er konnte sich erinnern, wie sie ihn im Spülbecken Windeln waschen ließ. Er hängte sie zum Trocknen auf, aber sie warf sie wieder ins Wasser und erklärte, sie seien nicht sauber
genug. Verprügelt hatte sie ihn aber nur, wenn er an der Kaimauer von Turner Station geschwommen war. »Ich musste ihr eine Peitsche holen, damit sie mich schlagen konnte. Dann hat sie mich wieder weggeschickt und gesagt, ich solle eine größere holen, dann noch eine größere, und dann hat sie alle zusammengebunden und mir den Hintern versohlt.«
    Während er sprach, füllte sich die Küche wieder mit Rauch – wir hatten beide das Essen auf dem Herd vergessen. Lawrence schob mich vom Küchentisch ins Wohnzimmer und setzte mir ein Tischset aus Plastik mit Weihnachtsmotiven vor, darauf ein Teller mit Spiegeleiern und einem Stück verkohltem Schweinefleisch, so groß wie meine Hand, nur dicker. Dann ließ er sich neben mich auf einen Holzstuhl fallen, stützte die Ellenbogen auf die Knie und starrte schweigend auf den Fußboden, während ich aß.
    »Sie schreiben ein Buch über meine Mama«, sagte er schließlich.
    Ich nickte mit vollem Mund.
    »Ihre Zellen wachsen so groß wie die Welt und bedecken die ganze runde Erde«, sagte er mit Tränen in den Augen, während er mit den Händen durch die Luft fuhr und die Form unseres Planeten nachzeichnete. »Is schon seltsam … dass sie immer weiter wachsen und wachsen, immer alles abwehren und abwehren.«
    Er beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war, und flüsterte: »Wissen Sie, was ich gehört hab? Ich hab gehört, im Jahr 2050 wird man den Babys ein Serum aus den Zellen meiner Mama spritzen, und dann werden sie 800 Jahre alt.« Er lächelte mich an, als wollte er sagen: Ich wette, da kann deine Mama nicht mithalten. »Die machen alle Krankheiten weg«, sagte er. »Ein richtiges Wunder.«
    Lawrence sank auf seinen Stuhl zurück und starrte auf seine
Beine. Sein Lächeln erstarb. Nach langem Schweigen drehte er sich ein wenig und sah mir in die Augen.
    »Können Sie mir sagen, was die Zellen von meiner Mama wirklich gemacht haben?«, flüsterte er. »Ich weiß, dass sie was Wichtiges gemacht haben, aber uns erzählt ja keiner was.«
    Als ich ihn fragte, ob er wisse, was eine Zelle ist, starrte er zu Boden wie ein Schüler, der vom Lehrer aufgerufen wird und seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.
    »Nur ungefähr«, sagte er. »Nicht so richtig.«
    Ich riss eine Seite aus meinem Notizbuch, zeichnete darauf einen großen Kreis mit einem kleinen schwarzen Punkt darin und erklärte ihm, was eine Zelle ist. Dann erzählte ich ihm ein wenig davon, was HeLa für die Wissenschaft geleistet hatte und wie weit man mit der Zellkultur seither gekommen war.
    »Heute kann man sogar die Hornhaut für das Auge züchten«, erzählte ich ihm und suchte in meiner Tasche nach einem Artikel, den ich aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte. Ich reichte ihm den Ausschnitt. Mit den Kulturverfahren, zu deren Entwicklung HeLa beigetragen hatte, so fuhr ich fort, konnten Wissenschaftler jetzt ein Stück aus der Hornhaut eines Menschen nehmen, es in der Zellkultur heranwachsen lassen und dann ins Auge eines anderen verpflanzen, um

Weitere Kostenlose Bücher