Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
ihn von seiner Blindheit zu heilen.
»Das muss man sich mal vorstellen«, sagte Lawrence und schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich ein Wunder!«
Plötzlich stieß Sonny die Fliegengittertür auf und rief: »Miss Rebecca hier? Lebt sie noch?« Er lehnte im Durchgang zwischen Küche und Wohnzimmer.
»Sieht aus, als hätten Sie die Prüfung bestanden«, sagte er und zeigte auf meinen halb geleerten Teller.
»Miss Rebecca hat mir von den Zellen von unserer Mutter erzählt«, sagte Lawrence. »Wirklich interessantes Zeug. Hast du
gewusst, dass man Zellen von unserer Mutter benutzt hat, damit Stevie Wonder wieder sehen kann?«
»Na ja, eigentlich sind es nicht ihre Zellen, die man den Leuten in die Augen verpflanzt«, stammelte ich. »Aber man benutzt dazu Methoden, zu deren Entwicklung ihre Zellen beigetragen haben, und jetzt züchtet man die Hornhaut von anderen Leuten.«
»Is ja irre«, sagte Sonny. »Das hab ich nicht gewusst, aber neulich hat Präsident Clinton gesagt, der Impfstoff gegen Kinderlähmung wär eine der wichtigsten Sachen, die im 20. Jahrhundert passiert sind, und daran waren auch ihre Zellen beteiligt.«
»Ja, wirklich irre«, bestätigte Lawrence.
»So ist das also«, sagte Sonny, wobei er langsam die Arme ausbreitete und beiseitetrat. Jetzt gab er den Blick auf seinen 84-jährigen Vater Day frei, der auf wackeligen Beinen hinter ihm hertrottete.
Day war seit fast einer Woche nicht mehr aus dem Haus gegangen, weil seine Nase unaufhörlich blutete. Jetzt stand er, obwohl es ein kalter Januartag war, in verblichenen Jeans, Flanellhemd und blauen Plastik-Flipflops in der Wohnzimmertür. Er war mager, gebrechlich und kaum in der Lage, sich aufrecht zu halten. Sein hellbraunes Gesicht war vom Alter gegerbt und runzelig, aber auch weich wie ein Paar lange getragene Arbeitsschuhe. Auf seinen silbernen Haaren saß eine schwarze Schirmmütze, die genauso aussah wie die von Sonny.
»Er hat Wundbrand an den Füßen«, sagte Sonny und zeigte auf Days Zehen. Sie waren einige Schattierungen dunkler als sein übriger Körper und voller offener Stellen. »In normalen Schuhen tun ihm die Füße zu weh.« Der Wundbrand hatte sich von den Zehen schon bis zum Knie ausgebreitet. Der Arzt hatte erklärt, die Zehen müssten amputiert werden, aber Day weigerte sich. Er wollte nicht, dass die Ärzte an ihm herumschnitten wie an Henrietta. Sonny mit seinen 52 Jahren war der gleichen Meinung.
Ihm hatten die Ärzte gesagt, er brauche eine Angioplastie, aber er hatte sich geschworen, sie nie vornehmen zu lassen. Day setzte sich neben mich. Eine braune Plastiksonnenbrille schirmte seine ständig tränenden Augen ab.
»Daddy«, rief Lawrence, »wusstest du, dass Stevie Wonder wegen Mamas Zellen wieder sehen kann?«
Wie in Zeitlupe schüttelte Day den Kopf. »Nee«, murmelte er, »das hab ich bis heute nich gewusst. Wundert mich aber auch nich.«
Plötzlich hörte man an der Decke ein Rumpeln und Geräusche, als ob jemand herumlief. Lawrence sprang vom Tisch auf und rannte in die Küche. »Meine Frau wird zum Tier, wenn sie ihren Morgenkaffee nicht kriegt«, sagte er. »Ich mach ihn ihr mal lieber.« Es war ungefähr 14 Uhr.
Ein paar Minuten später kam Bobbette Lacks die Treppe herunter. In einem verblichenen blauen Frotteebademantel schlurfte sie langsam durch das Wohnzimmer. Alle verstummten, während sie vorüberging und die Küche ansteuerte, ohne ein Wort zu sagen oder irgendjemanden anzusehen.
Bobbette wirkte wie ein lauter Mensch, der plötzlich still ist, wie eine Frau mit ungeheurem Temperament, aus der jeden Augenblick das Lachen herausbrechen konnte. Es war, als wollten ihr düsteres Gesicht und ihr gerader Blick sagen: Leg dich bloß nicht mit mir an . Sie wusste, warum ich da war, und hatte zu dem Thema viel zu sagen, aber sie schien den Gedanken, mit mir zu sprechen, unerträglich zu finden – schon wieder eine Weiße, die etwas von ihrer Familie wollte.
Sie verschwand in der Küche, und Sonny drückte Day ein zerknülltes Stück Papier in die Hand. Es war ein Ausdruck des Bildes von Henrietta mit den in die Hüften gestützten Händen. Er nahm mein Tonbandgerät vom Tisch, gab es Day und sagte: »Na gut, Rebecca hat Fragen an dich, Papa. Sag ihr, was du weißt.«
Day nahm Sonny den Kassettenrekorder aus der Hand und blieb stumm.
»Sie will einfach alles wissen, was Dale dich immer gefragt hat«, sagte Sonny.
Ich fragte Sonny, ob er vielleicht Deborah anrufen und sie bitten könne, kurz
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