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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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ein wenig wässrigen hellen Augen, erschien er ihr wie eine jener Leidensgestalten aus der Bibel, die ihr Leben für Gott gaben und von den Menschen dafür bestraft wurden.
    In diesem Augenblick kam ihr der Zwölfjährige wie ein Märtyrer vor, der niemals etwas verbrochen hatte und trotzdem bis an sein Lebensende für die Verbrechen anderer büßen musste.
    »Was ist los?«, fragte Leon mit leiser Stimme.
    »Du …« Weiter kam sie nicht. Sie schlug die Hände vors Gesicht, erhob sich schwankend und ging ohne ein weiteres Wort ins Badezimmer. Sie schloss die Tür und fing an zu weinen.
    Verdutzt schaute Leon die geschlossene Tür an. Bevor der Mann ihn unterbrochen und die Tür geschlossen hatte, wollte er noch hinzufügen, dass er seine Traumsach gern mit Sophia teilen würde. Zum Beispiel einmal mit dem Segelflieger durch die blaue Luft schweben, schwerelos wie Vögel, und unten die winzigen Dörfer vorüberziehen lassen, stundenlang, bis der Wind aufhört. Was Ähnliches hatte er schon einmal geträumt und nach dem Aufwachen seiner Mutter erzählt. Sie meinte, das sei eine positive Botschaft, bestimmt würde er wieder vom Fliegen träumen.
    Aber das war nicht passiert. Also hatte er sich den einen Traum fest eingeprägt. Vielleicht, hatte er vorhin gedacht, würde der Traum in seinen Kopf zurückkehren, wenn er Sophia davon erzählte und sie bat, mitzukommen in der Nacht.
    Gemeinsam mit ihr in einem Traum – das war eine so leuchtende Vorstellung, dass er in ihr versank und erst wieder den Kopf hob, als Sophia direkt vor ihm stand.
    »Geh deine Hände waschen«, sagte sie. Ihre Stimme hatte wieder den glockenklaren Klang wie immer. »Und wenn du magst, unterhalten wir uns dann weiter.«
    Leon betrachtete seine Hände. Seiner Meinung nach waren sie nicht schmutzig, aber er wollte ihr nicht widersprechen. Er fand, das wäre jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
    Im Bad schloss er ebenfalls die Tür, und als er sich übers Waschbecken beugte, stutzte er. Auf dem weißen Untergrund klebte rotblaue Zahnpasta. Als er genauer hinsah, erkannte er, dass es zwei Wörter waren. Jemand hatte ins Waschbecken geschrieben: GEGENTEIL! PSSST!
    Niemand wusste, ob auch im Bad eine Kamera installiert war. Leon glaubte es nicht. Trotzdem beugte er sich so weit nach vorn, wie er konnte, damit nur er die Zahnpastaschrift lesen konnte.
    GEGENTEIL! PSSST!
    Wahrscheinlich, dachte er, war er doch nicht so dumm, wie er sich oft fühlte. Die ganze Zeit schon hatte er den Eindruck gehabt, Sophia würde genau das Gegenteil von dem erzählen, was stimmte. Er hatte bloß nicht kapiert, wieso. Er kapierte es immer noch nicht.
    Mit beiden Händen wischte er die Zahnpasta in den Abfluss, wusch seine Hände ausgiebig mit Seife, trocknete sie an einem der vier Handtücher ab und hielt inne. Wie er sich gleich verhalten sollte, wusste er nicht genau, nur, dass er von nun an Sophia vollkommen vertrauen musste.
    Egal, was geschah, sie war seine Verbündete. Wie früher seine Mutter. Und noch besser: Sophia war da, nah und gut duftend, und sie würde ihn nicht verlassen. Im Gegenteil: Er würde alles tun, damit sie bei ihm blieb.
    Ich bin vielleicht gerettet, dachte er, als er die Tür zum Kellerraum öffnete.
    Er sah noch, wie einer der Männer Sophia am Genick gepackt hatte und nach draußen führte. Über den Kopf hatten sie ihr einen Leinensack gestülpt. Der zweite Mann verriegelte die Tür, und es dauerte keine Minute, bis es wieder still war.
    Leon stand an der Badezimmertür. In seinem Bauch brannte ein Scheiterhaufen.

7
    Zweieinhalb Tage blieb Leon allein. Am Dienstagmorgen, erster Oktober, kam Conrad in den Keller zurück, und Leon erkannte ihn nicht sofort. Conrad stand da, die Hände überkreuz vor seiner roten Trainingshose, mit ausdruckslosem Blick, wie erstarrt, nachdem der Mann die Tür verriegelt hatte. Die Augen fixierten einen Punkt oberhalb von Leon, der noch immer auf der Matratze kniete und vor Schreck die Luft anhielt.
    Conrads aschefarbene Gesichtshaut schien sich über seinen gesamten Kopf zu spannen. Obwohl Leon sich dafür schämte, dass er seinen Freund wie ein Monster anstarrte, konnte er nicht damit aufhören.
    Conrad hatte keine Haare mehr. Sein Kopf war kahl geschoren. Seine Augen kamen Leon wie zwei runde Monde bei der Sonnenfinsternis vor, die er mal im Fernsehen gesehen hatte.
    So schwarz und groß waren Conrads Augen noch nie gewesen. Im ersten Moment hatte Leon gedacht, der Mann hätte einen anderen Jungen gebracht

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