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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Hunger?«
    »Nein«, sagte Leon wie automatisch. Eigentlich wollte er sie fragen, ob irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Er wusste nicht, wie er es formulieren sollte. Und vielleicht meinte sie alles ja ernst.
    Das war unmöglich.
    Wovon redete sie überhaupt? Und warum hörte sie nicht damit auf? Und wie lange würde der Mann an der Tür noch zuhören?
    »Wieso gibst du mir keine Antwort?«
    »Was?«
    »Sag auch mal was Schönes.«
    »Weiß nichts.«
    »Bist du gern hier?«
    Nein, sagte Leon, aber das Wort kam nicht aus seinem Mund. Das verwunderte ihn maßlos. Er zog die Stirn in Falten und horchte, weil er fast sicher war, dass er etwas gesagt hatte.
    Nichts passierte. Sophia drehte den Kopf zu ihm.
    »Zur Wand schauen!«, blaffte der Mann. Leon zuckte zusammen und Sophia starrte reglos nach vorn zum grauen Beton.
    In diesem Moment musste Leon wieder an das Zimmer oben im Haus denken, an die Frau, die ihm Befehle erteilte und ihn an sich zog und Dinge von ihm verlangte. Daran wollte er nicht denken. Er wollte an Sophia denken, die direkt neben ihm hockte und plötzlich nichts mehr sagte, was er unmöglich fand.
    Langsam glaubte er zu begreifen: Sie redete sich was ein, um den Tag zu überstehen, die Anwesenheit des bösen Mannes, das Wegsein von Maren und Conrad, das schon mindestens drei Stunden dauerte. Sie hatte sich eine Strategie ausgedacht. Sie war viel schlauer als er.
    Auch wenn Leon nicht ahnte, worauf sie eigentlich hinauswollte, flößte ihm ihr unerschütterliches Sprechen, das in seinen Ohren manchmal wie ein Singen klang, Vertrauen ein in etwas, von dem er keine Vorstellung hatte. Er wurde dann ganz ruhig und empfand ihre Nähe wie die seiner Mutter, wenn sie nachts an seinem Bett saß und ihn vor der Finsternis beschützte, einfach, indem sie ihm etwas erzählte.
    »Ich schon«, sagte Sophia. »Ich bin gern hier.«
    »Ich auch.« Auf einmal schienen die Worte auf seiner Zunge nur so herumzukugeln. »Und Pflaumenkuchen mag ich besonders gern, den gibt’s hier immer.«
    »Das stimmt. Und noch lieber hab ich Apfelkuchen. Mit Sahne. Sollen wir mal fragen, ob wir welchen bekommen?«
    »Machen wir.«
    Sophia hatte die Hände im Schoß gefaltet. Jetzt hob sie den Zeigefinger und bewegte ihn vorsichtig hin und her. Aus den Augenwinkeln schaute Leon dabei zu. Nach einigen Sekunden wurde ihm klar, was sie meinte.
    Dabei hätte er den Mann hinter ihnen sowieso nicht gefragt. Das hätte er sich niemals getraut. Stattdessen sagte er: »Wir haben noch viel Zeit.«
    Sophia lächelte, aber so kurz, dass Leon sich nicht sicher war, ob er richtig gesehen hatte. »Wenn wir nicht hier sein dürften«, sagte sie, »müssten wir in der Schule sein. Das wär schlimm.«
    »Ganz schlimm.«
    »Schlimmer als ganz schlimm.«
    »Böse schlimm«, sagte Leon.
    Er kam in Schwung. Die Luft, die von draußen hereinzog, wurde noch kälter, und er bildete sich ein, Salz zu schmecken. Er leckte sich die Lippen. Sie waren trocken und rissig und kamen ihm fremd vor. Nicht dran denken, dachte er und ballte die Fäuste und wiegte, ohne es zu merken, wieder den Kopf hin und her.
    »In der Schule verpassen wir schon nichts.« Der Satz gefiel ihm, er hatte vorher keinen Moment darüber nachgedacht.
    »Und wenn schon. Egal, Schwester Regal. Hauptsache, wir sind hier und glücklich.«
    »Hauptsach, wir haben eine Traumsach.« Leon nickte und kratzte sich am Kopf. Sein Magen knurrte und er schnupperte hörbar.
    »Schluss damit«, rief der Mann. Er hustete, schob die Eisentür zu und verriegelte sie. Dann knallte er ein Fenster zu und entfernte sich mit schlurfenden Schritten.
    Stille.
    Sophia ließ ihre Hände im Schoß kreisen. Leon sah hin und wieder weg. Dann wurde ihm bewusst, dass es keinen Grund gab, länger die Wand anzustarren, und er wandte sich um. Beine und Rücken taten ihm weh. Er dachte kurz nach, dann stand er auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. Er fühlte seine Knochen und erschrak. Auch Sophia drehte sich um. Sie betrachtete den mageren Jungen in der grünen Hose und dem gelben ausgeblichenen Sweatshirt und wurde von maßlosem Mitgefühl überwältigt. Sie schluchzte so laut, dass Leon erschrocken herumfuhr und sie anstarrte wie vorher die Wand.
    Was mit ihr passierte, wusste Sophia selbst nicht genau. Der schmächtige Kerl mit den strubbeligen blonden Haaren erbarmte sie einfach. So gekrümmt, wie er da stand, von einem versteckten, grausen Schmerz ausgemergelt, mit dem bleichen schönen Gesicht und den riesigen, immer

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