Die unterirdische Sonne
aufzuhören. Er bildete sich ein, sie könnten seine Gedanken hören. Der Ekel und sein Zorn verschwanden trotzdem nicht.
Beim ersten Mal in dem Zimmer war er an der Tür stehen geblieben. Wenn er daran dachte, was die Frau getan hatte, bloß weil er sturig sein wollte – aus einem irren unerklärlichen Überschwang heraus –, fing er an zu weinen.
Zwei Stunden hatte er in der Ecke neben der Tür stehen müssen, ohne Hemd und Hose.
Wahrscheinlich hätte er vor Schmerzen sowieso nicht sitzen können.
Nicht einmal sein Blut tröstete ihn, das er an seinem Rücken ertastete.
Seitdem tat er alles, was die Frau von ihm verlangte.
Und an diesem Samstag trieb sein Zorn ihn Runde um Runde durch den Kellerraum, bis er erschöpft zusammenbrach. Sein Schluchzen verwandelte sich in einen Schluckauf, an dem er fast erstickte.
Nachdem er ein wenig zur Ruhe gekommen war und sich gerade unter der Decke verstecken wollte, hörte er Sophias Stimme, die ihm so klar und stark vorkam wie noch nie.
»Ach, wie haben wir’s gut hier«, sagte sie. »Wir werden geliebt, ist das nicht wundervoll?«
Sie saß am Tisch, in ihrem blauen Sweatshirt und ihrer weißen Hose, die Beine angewinkelt, die Füße auf dem Stuhl, und lächelte Leon an. Er wischte sich mehrmals übers Gesicht, als könne er dann besser denken oder als würden sich ihre Worte dann in andere, verständliche verwandeln. Er verstand überhaupt nicht, was Sophia ihm sagen wollte. Eigentlich war er zu erschöpft, um sie anzustarren. Dann tat er es doch, wie automatisch, und sie lächelte wieder.
»Wir sind Glückskinder. Komm setz dich zu mir«, sagte Sophia.
Nach einer Weile erhob Leon sich schwerfällig, verschränkte die Arme, machte einen Schritt und blieb stehen. Ohne es zu merken, neigte er den Kopf abwechselnd nach rechts und links und ließ das Mädchen nicht aus den Augen.
Sie waren die Einzigen im Raum.
Auch Sophia legte den Kopf schief, seufzte und schwieg. Abrupt hielt Leon inne, kniff die Augen zusammen und setzte sich behutsam auf den Stuhl an der Längsseite des Tisches, mit dem Rücken zur Tür.
Nachdem es eine Weile totenstill gewesen war, sagte Leon: »Du spinnst.«
Sophia strich ihm über den Kopf und über die Wange. Die Berührung war so sanft, dass Leon beinah wieder angefangen hätte zu weinen. Mit aller Macht unterdrückte er seine Tränen.
»Du auch«, sagte Sophia. »Deswegen passen wir so gut zusammen.«
Er hatte schon wieder keine Ahnung, wovon sie redete.
Ähnlich wie ihre erste Begegnung würde Leon auch diesen letzten Samstag im September mit ihr niemals vergessen. Sophia hatte ein Spiel erfunden und er durchschaute auch nach Stunden das einfache Prinzip nicht. Er spielte bloß mit, ohne zu wissen, wobei. Er redete wie sie, sagte Sätze, die für ihn sinnlos und genauso übertrieben klangen wie die von Sophia.
Bald fand er das Spiel lustig. Vor allem, als der Mann kam und die Tür zum Lüften offen stehen ließ, während er im Kellerflur wartete. Wie immer an den Lüftungstagen saßen sie mit dem Rücken zur Tür auf der Matratze und starrten die Wand an. Normalerweise schwiegen sie dabei. Diesmal jedoch hörte Sophia nicht auf zu reden und Leon machte nach einigen Minuten mit.
»Ich will hier nie wieder weg«, sagte sie. »Hier sind wir in Sicherheit.«
Leon dachte eine Zeit lang nach, bevor ihm nichts dazu einfiel.
»Wir kriegen was zu essen. Das Zimmer ist warm. Und wenn wir brav sind, kann uns nichts passieren.« Sie hörte Schritte. Vermutlich kam der Mann hinter ihnen näher und blieb in der Tür stehen, um besser zuhören zu können. »Ich wollt eh von zu Hause weg. Was meinst du, Leon, sollen wir mal fragen, ob uns die Leute adoptieren?«
Es kam ihm vor, als würden in seinem Kopf die Gedanken anfangen zu dribbeln. Sophias Bemerkungen machten ihn schwindlig. Bevor er einen Ton herausbrachte, redete sie schon weiter. Die Luft um ihn herum wurde kälter. Leon bildete sich etwas ein, das ihn so sehr beschäftigte, dass er erst einmal nicht zuhören konnte.
In der Luft, glaubte er, lag ein Geruch nach frisch gebackenem Kuchen. Er überlegte, welcher Kuchen es sein könnte. Dann fiel ihm ein, wie er vor Kurzem an Marens Ohr geschnuppert hatte und an Pflaumenkuchen denken musste. Jetzt kam er nicht auf den Geruch, der von draußen hereinzog. Außerdem brachte Sophias Stimme ihn durcheinander.
»Hier haben wir alles, was wir brauchen«, sagte sie. »Hier drinnen ist es besser als irgendwo sonst. Hast du
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