Die unterirdische Sonne
stört.«
»Ich will hier stehen bleiben.«
Sophia drehte sich noch ein Stück mehr zu ihm um. »Sag mal, hinkst du nicht nur mit dem Bein, sondern auch mit deinem Kopf? Du sollst da weggehen, sag ich.«
Leon hielt sich die Ohren zu. Das irritierte Sophia für einen Moment. Dann ruckte sie mit dem Stuhl, als wollte sie gleich aufspringen.
»Wir wissen nichts von dir.« Ihre Augen waren Leon noch nie so grün vorgekommen. Er starrte in ihr Gesicht und dachte plötzlich an die Wiese auf dem Kalvarienberg, wo sie in der prallen Sonne Fußball spielten, jeden Sommer, jede Woche. Sophias Stimme drang durch seine Hände hindurch, er wollte nicht hinhören, er wollte bloß dastehen und herausfinden, wo das Meer in seinem Kopf herkam.
»Du stolzierst hier rum, Noah, und das wollen wir nicht. Du bist genau so ein Opfer wie wir und du wirst genau so sterben. Ist mir egal, was du dir einredest. Wir reden uns alle was ein, anders schaffen wir das nicht. Aber verhalt dich einfach ruhig. Und wenn’s einem von uns schlecht geht, dann tu irgendwas und hilf. Und steh nicht rum. Ist das klar?«
Noah zeigte mit dem Stock auf Leon. »Er steht auch rum.«
»Er steht nicht rum«, sagte Sophia.
»Was ist das dann? Senkrecht liegen?«
»Du bist nicht witzig, Noah.«
»Wieso bist du so zu mir?«
»Hör auf, mir Fragen zu stellen.«
»Glaubst du eigentlich, du bist was Besseres?«
»Was?«
»Du? Bist du hier die Chefin?«
Sophia stand auf. Maren griff nach ihrem Arm. Noah hatte den Stock gehoben, um wieder auf den Boden zu schlagen, und hielt in der Bewegung inne. Conrad richtete sich auf seiner Matratze auf. Leon nahm die Hände von den Ohren.
Niemand sagte etwas.
Eine Minute verstrich in Stille. Dann ging Sophia zu Noah, schlang die Arme um ihn, hielt ihn eine Weile fest, machte einen Schritt zur Seite und griff nach seiner Hand. Noah hatte keinen Mucks von sich gegeben. »Bei uns ist niemand allein. Merk dir das«, sagte sie zu ihm. »Und du auch, Leon. Dann musst du nicht mehr so oft weinen.«
Erschrocken rieb Leon sich über die Augen und stellte fest, dass sie nass waren. Er schämte sich. Dann fiel ihm ein, woran er gerade gedacht hatte. Seine bleichen Lippen verwandelten sich in ein scheues Lächeln.
Sogar Noah zeigte auf einmal Interesse. Er setzte sich neben Leon, was er noch nie getan hatte. Ohne die vier Jugendlichen am Tisch auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, hockte Conrad auf seiner Matratze und wartete, dass Leon endlich eine Erklärung abgab. Alle warteten darauf, seit mit Leon diese seltsame Veränderung vor sich gegangen war und er mit einem beseelten Blick drei Mal auf und ab gelaufen war und dabei wirkte, als nähme er nichts von seiner Umgebung wahr. Er ging einfach, den Blick in die Ferne gerichtet – als gäbe es hier irgendeine Ferne, dachte Noah –, mit trippelnden Schritten und schlenkernden Armen.
Maren hatte ihm zugesehen und sich ein wenig gefürchtet. Jetzt kam ihr der Gedanke, Leon habe womöglich einen Plan gefasst, der jeden Einzelnen von ihnen betraf und etwas Schlimmes auslöste.
Obwohl sie keine Ahnung hatte, was das sein könnte, deutete sie jetzt sein stummes Dasitzen und sein Lächeln, das einfach nicht aufhörte, als Vorzeichen einer fürchterlichen Explosion.
»J-jetzt r-red schon«, sagte sie. Am liebsten wäre sie aufgestanden und zu ihm hingegangen und hätte ihn festgehalten, nur so, wegen der Nähe.
Leon wusste nicht, was er sagen sollte. Hingesetzt hatte er sich nur, weil Noah ihm, nachdem er auf und ab gegangen war, die Hand auf die Schulter gelegt und zugedrückt hatte, und das tat ihm weh. Anschließend hatte Noah ihn auf den Stuhl gepresst, indem er seine Pranke so lange auf Leons Schulter ließ, bis er sich ebenfalls hingesetzt hatte.
Eigentlich wollte Leon überhaupt nicht sitzen. Er wollte stehen bleiben und der Luft nachschnuppern, den salzigen Geschmack auf der Zunge spüren und den Moment auskosten, an den er sich plötzlich vollkommen klar erinnerte. Als hätte jemand in seinem Kopf eine Taschenlampe angeknipst.
Bei diesem Gedanken kehrte sein Lächeln zurück, und er brauchte eine Zeit lang, bis er mitkriegte, dass die anderen ihm ununterbrochen ins Gesicht starrten.
Er hatte trotzdem nichts zu sagen. Außerdem war ihm das, was er hätte sagen können, peinlich. Weil es schon wieder um seine Mutter ging und darum, dass er schwach und kindisch war.
Dabei wussten die anderen fast nichts von seiner Mutter und dem Leben, das er mit ihr führte.
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