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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Oberkörper, bis er Leons Schulter berührte. Leon rückte unwillkürlich mit dem Stuhl ein Stückchen weg. Jedenfalls versuchte er es.
    »L-lass ihn i-in R-Ruhe, Noah.«
    »Vielleicht später«, sagte Sophia sanft. »Nach dem Stimmbruch kannst du vielleicht singen.«
    »Ich kann nicht singen.« Leon wollte gerade Sophias Berührung genießen, als sie die Hand wegzog. Sekundenlang war er so verwirrt, dass er nicht bemerkte, wie Noah den Arm um seine Schulter legte. Erst als Noah ihn ansprach, zuckte er zusammen.
    »Kein Problem. Du singst, wenn du die passende Stimme dazu hast. Okay? Glaub an dich, glauben ist so toll, glaub mir.«
    Wahrscheinlich wollte Noah ihn verarschen, dachte Leon, ganz genau wusste er es jedoch nicht. Er bereute, dass er überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Und als Noah endlich seinen Arm runternahm, beschloss er, seine Zähne zu putzen, sich anschließend unter seiner Decke zu verkriechen und bis zum Ende der Nacht still zu sein. Wahrscheinlich würde seine Mutter böse wütend werden, wenn sie erfuhr, was er alles über sie erzählte. Solche Geschichten mochte sie überhaupt nicht. In ihren Augen war ihre Zeit als Sängerin ewig vorbei, und niemand hatte das Recht, sie daran zu erinnern. Das wusste er genau.
    Bevor Leon die Badezimmertür hinter sich schloss, hörte er im Kellerflur vertraute Schritte.
    Die beiden Mädchen sprangen von den Stühlen, Conrad von der Matratze, und sie knieten sich vor die Wand. Leon eilte herbei und Noah blieb wieder stehen. Noah rechnete damit, dass sie ihn heute noch holen würden, und es war ihm egal. Beim Geräusch des Schlüssels dachte er an den Tag der Vergeltung. Als der Mann den Raum betrat, umfasste Noah den Griff seines Stocks mit beiden Händen und wartete auf den Kartoffelsack.
    Doch der Mann stülpte nicht ihm den Sack über den Kopf. Sondern Leon.
    Mit Schlägen gegen die Schulter dirigierte der Mann Leon nach draußen. Oben würde er ihm den Sack abnehmen und Leons Augen mit einem Schal verbinden. Leon wusste, dass die Frau das manchmal so wollte, wenn sie allein mit ihm im Zimmer blieb.
    Wahrscheinlich, dachte Leon noch kurz, durften nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene ihr niemals widersprechen.

13
    Er ließ Leon gewähren. Dabei hätte Noah vor Wut am liebsten zugeschlagen, mit dem Stock auf den Tisch, mit der Faust in Leons Gesicht. Noah sah ihm zu, wie er auf und ab schlurfte, ein Ausbund an Furcht, die er für Entschlossenheit hielt.
    Nachdem er sich in der zurückgekehrten Stille von der Wand weggedreht und sofort begriffen hatte, in welchem Zustand Leon sich befand, glaubte er, einen Riss in seinem Herzen zu spüren.
    Wie panisch klopfte Noah daraufhin mit der Faust auf seinen Brustkorb und beruhigte sich erst wieder, als er erkannte, dass Leon noch fähig war zu gehen und den Kopf zu bewegen wie jemand, der einer geheimen Musik lauschte. Dass da keine Musik in Leons Kopf war, stand für Noah fest, und er hasste die Stille im Raum, seit die beiden Männer die Tür wieder hinter sich verriegelt hatten.
    Und seit Maren und Sophia weg waren.
    Die Männer hatten die Mädchen am Morgen mitgenommen.
    Ich schlag dich tot, sagte eine Stimme in Noah.
    Leons Anblick katapultierte ihn gegen jede Faser seines Willens in das Verlies seiner Kindheit. Das war ein gewöhnlicher Keller, der von einem gewöhnlichen Zahnarzt abgeschlossen wurde.
    Jedes Mal, wenn ihn ein Blick aus Leons Augen erwischte, fingen seine vertrockneten Tränen Feuer. Noah weinte schon lange nicht mehr. Im Alter von sechs Jahren hatte er in der Finsternis beschlossen, stärker zu sein als seine Tränen.
    Außerdem sagte er sich, sein Vater habe seine Tränen nicht verdient, genau so wenig wie seine Mutter. Er wollte ihnen etwas beweisen, von dem er zuerst noch nicht genau wusste, was es war. Beim nächsten kalten, feuchten, lichtlosen Mal aber war ihm alles klar gewesen: Seine Tränen waren sein Eigentum. Sie gehörten ihm allein, wie seine Haare und sein Blut, niemand hatte das Recht, sie zu verurteilen oder zu bedauern, nicht einmal sie anzuschauen.
    In derselben Dunkelheit lernte er, bei trockenen Augen zu schluchzen. Kurz darauf bewies er seine neue Fähigkeit am helllichten Tag in Gegenwart seiner Mutter. Wegen einer Bemerkung hatte sie ihm eine Ohrfeige gegeben – und er sah sie darauf hin nur an, schniefte und blinzelte, weiter nichts. Sie schien irritiert zu sein, denn sie legte den Kopf schief, was er unglaublich dämlich fand.
    Seither lagerten seine Tränen wie

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