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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Die meiste Zeit redete er doch nur stumm mit sich selbst, das vergaß er dauernd. Nach einem Jahr in Gefangenschaft hatte er sein halbes Leben noch einmal im Kopf verbracht. Die Überlegung, wem er was inzwischen erzählt hatte, überforderte ihn. Dann erschrak er. Neben ihm war ein Kopf mit Haaren vorm Gesicht aufgetaucht. »Wir warten, Leon«, sagte Noah und blies mit vorgeschobener Unterlippe ein paar Haarsträhnen von seiner Nasenspitze.
    »Woran denkst du Schönes?« Sophia saß Leon gegenüber.
    »An nichts.«
    »Du sollst nicht lügen.«
    »Ich lüg nicht.«
    »Bist du verliebt?«, fragte Noah.
    »Lass mich in Ruhe.«
    »Darauf kannst du lange warten.«
    Sophia legte die Hand auf Leons Arm. Leon saß nach vorn gebeugt da, die Arme auf dem Tisch. Sein Lächeln wurde kleiner. Als ihre Blicke sich begegneten, hörte es auf. Leon betrachtete Sophias Hand auf seinem Arm, warf Noah einen grimmigen Blick zu und lehnte sich zurück.
    »Ich sag gar nichts.«
    Mit einer schnellen Bewegung hieb Noah mit dem Stock auf den Boden, weniger heftig als bisher. »Dann schweigen wir alle, der König hat’s befohlen.«
    Bei dieser Bemerkung musste Leon gleich wieder lächeln. Sophia strich ihm mit zwei Fingern über die Nase. Er schaute in ihre grünen Augen und bekam mit einem Mal ein schwungvolles Herz.
    »Damals«, sagte er, und das wiederentdeckte Wort gefiel ihm. »Damals hab ich keine Luft mehr gekriegt, ich hab gezittert am ganzen Körper, voll hart war das.« Er sah niemanden direkt an. Das war auch nicht nötig, alle Blicke waren sowieso auf ihn gerichtet. Conrad war auf seiner Matratze ein Stück zur Seite gerutscht, damit er Leon besser sehen konnte.
    »Die Bettdecke hab ich bis zur Nase raufgezogen und nur geschaut, dass die Ohren frei sind. Weil sie doch gesungen hat, meine Mutter. Die ist doch Sängerin, das wisst ihr ja.«
    Niemand wusste es, aber niemand sagte etwas.
    »Sie hat an meinem Bett gesessen und ein Lied gesungen, ziemlich leise, weil sie mich nicht erschrecken wollte und wahrscheinlich Angst gehabt hat, dass die Nachbarn was mitkriegen. Unsere Nachbarn hören immer alles. Meine Mutter behauptet, die hören schon was, bevor überhaupt was passiert.
    Das Fenster war gekippt, wegen der Luft. Damit ich frische Luft krieg im Bett und mein Fieber runtergeht. Und das Lied hat vom Meer gehandelt, von den Möwen und von einem Schiff, das bis zum Horizont fährt. Das Meer war in meinem Zimmer, ich schwör’s, ich hab die Möwen gehört, ganz deutlich. Nur wegen dem Singen von meiner Mutter.
    Manchmal hab ich mir gewünscht, dass ich krank werd und wieder im Bett liegen muss. Dann geht meine Mutter nicht zur Arbeit und sitzt bei mir, stundenlang, ehrlich. Und dann fragt sie mich, ob sie mir was vorsingen soll, und ich brauch bloß blinzeln, dann weiß sie schon, was ich mein, und fängt an. Einfach so. Ohne Musik dazu.
    Ihre Stimme ist stark, so wie deine, Sophia, nicht so hoch und dünn wie die von den Sängerinnen im Fernsehen. Sie singt wie eine Rocksängerin auf der Bühne, aber sie singt keine Rocksongs, das ist ja klar. Sie singt Geschichten. Sie erzählt immer was, wenn sie singt. Vom Meer zum Beispiel, von Ländern, die weit weg sind, vom Sand und vom Licht und von den Sternen. Manchmal versteh ich was nicht, weil es Englisch ist, mein Englisch ist nicht gut. Das stört mich nicht, und sie auch nicht.«
    Er rieb die Knöchel seiner Fäuste aneinander und bemerkte, dass Conrad die Augen geschlossen hatte, was schön aussah, auch wenn Leon nicht hätte sagen können, wieso. »Und dann bin ich gesund geworden, und meine Mutter musste wieder viel arbeiten, weil sonst kein Geld ins Haus kommt. So war das, ja, so war das.«
    »Und vorhin musstest du an sie denken«, sagte Sophia.
    Leon nickte. Maren zupfte an ihrem Kleid. »K-kannst du a-auch s-singen?«
    »Ja«, sagte Noah. »Sing uns mal einen. Bring Stimmung ins Haus. Auf geht’s. Lass deine königliche Stimme erklingen.«
    »Bin kein König.« Wenn er die Worte in seinem Kopf nachklingen ließ, kam er sich lächerlicher vor denn je. Am liebsten wäre er aufgestanden und ins Bad gegangen und erst wieder herausgekommen, wenn das Licht aus war. Er ahnte, dass Noah ihn daran hindern würde.
    »Sing was«, sagte Noah.
    »Ich kann nicht singen.«
    »Denk dran, was Sophia gesagt hat.«
    Leon wusste nicht, was er meinte.
    »Du sollst nicht lügen«, sagte Noah.
    »Ich kann nicht singen.«
    »Wo sind dann die Gene deiner Mutter hin?« Noah beugte seinen

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