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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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vergammeltes Laub in einer Nische seiner Erinnerung. Und jetzt bildete er sich ein, sie zu riechen.
    Etwas in ihm fing an zu brennen, wenn Leon mit schleppenden Schritten an ihm vorbeiging und ihn aus erloschenen Augen anschaute.
    Noah hätte ihn beinah angespuckt, weil er es nicht schaffte, ihm ins Gesicht zu schlagen. Oder wenigstens einen Stuhl gegen den Fernseher zu schleudern, vor dem Conrad wie ein vereister Klotz hockte und sich tonlosen Schwachsinn reinzog.
    Noah stand neben dem Tisch und verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Er presste den Stock an den Körper und verfolgte jeden von Leons Schritten. Er konnte nicht anders. Die Bewegungen des Jungen wirkten magnetisch auf ihn. Wie ein Film, in dem er selbst mitgespielt hatte. Auch er war auf und ab gelaufen, hin und her, von einer Wand zur andern, halbblind und wehrlos, angefüllt mit einem namenlosen Schmerz, der nicht von den Schlägen herrührte – Schläge waren normal und taten bloß weh –, sondern von der Welt und den unbegreiflichen Menschen.
    Und Noah ahnte, dass Leon in diesem Moment ähnlich empfand.
    Deswegen wollte er ihn vorhin niederprügeln. Um Leon aufzuwecken. Um ihm die Wahrheit einzubläuen. Um ihn von der Schuld zu erlösen, mit der er sich quälte. Darüber wusste Noah Bescheid wie über nichts sonst.
    Er hatte sich einen eigenen elektrischen Stuhl gebaut. Da war er vier Jahre alt, und der Stuhl war unsichtbar, das war das Wichtigste. Niemand sollte Noah daran hindern, sich draufzusetzen und zu verbrennen vor lauter Schuld. Woher er überhaupt wusste, dass es auf der Welt elektrische Stühle gab, konnte er später nicht erklären. Der Psychologe wollte aber ständig mehr darüber erfahren, weil er dieses Bild vom elektrischen Stuhl aus dem Mund eines Jugendlichen angeblich noch nie gehört hatte. So blieb ihm auch verborgen, dass der elektrische Stuhl für Noah kein Bild war, sondern eine Wirklichkeit.
    Und hätte Noah das Wunder mit seinen Tränen nicht vollbracht, er wäre dort unten gestorben, verurteilt von seinen Kopfgeschworenen. Indem er seine Tränen besiegte – das war ihm schon als Sechsjährigem klar –, besiegte er gleichzeitig die Welt und die Menschen.
    So einfach war das. So einfach, wie einen Hammer im Baggersee zu versenken.
    Das alles musste Leon kapieren, bevor sie ihn auf ihre Weise ermordeten und als Krüppel weiterexistieren ließen. Auch ihn, Noah, hatten sie als Krüppel weiter geduldet. Doch er hatte ihnen die Chance vermasselt, ihn zu ermorden. So glaubten sie nur, er wäre von nun an brav.
    Glauben, dachte Noah wieder einmal, war so toll.
    »Bleib stehen«, sagte er zu Leon.
    Mitten im Schritt hielt Leon inne.
    »Setz dich hin.«
    Leons Blick irrte an Noah vorbei zur Wand und wieder zurück.
    »Komm her.«
    Leons Kopf kippte langsam nach links, nach rechts, nach links. Dann ging er zu seiner Matratze, sackte auf die Knie, roch an seiner linken Hand, kippte zur Seite und begann leise zu wimmern. Conrad warf ihm einen Blick zu und schaute wieder zum Fernseher, in dem ein Heimatfilm aus den sechziger Jahren lief.
    Nach einer Weile nahm Noah einen Stuhl, stellte ihn neben Leons Matratze und setzte sich hin, den Gehstock zwischen den Knien, die Hände auf dem Griff überkreuz.
    »Erzähl mir was«, sagte er.
    Verblüfft hob Leon den Kopf, ließ ihn gleich wieder sinken, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.
    Noah beobachtete ihn. Minuten später drehte Leon sich zur Seite, legte den Kopf auf die Hände und sah zu Noah hinauf.
    »Hab alles vergessen«, sagte er.
    »Wann bist du geboren?«, fragte Noah.
    Er bekam keine Antwort, nur einen verschollenen Blick. Noah hatte den Eindruck, Leon irrte noch immer durch einen Dschungel aus Gedanken, in den kein Funken Licht fiel.
    Noah kannte diesen Zustand. »Spielst du Fußball?«, fragte er.
    Leon nickte.
    »Torwart?«
    Leon schüttelte den Kopf.
    »Ich bin Torwart«, sagte Conrad, der unverändert auf seinem Stuhl hockte und zum Fernseher schaute.
    Noah wandte ihm flüchtig den Kopf zu. »Und wen soll das jetzt interessieren?« Er sah wieder Leon an. »Mittelfeld? Sturm?«
    »Linker Verteidiger.« Leons Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
    »Ich war mal rechter Verteidiger.« Noahs Stimme klang auf einmal wie beschwingt. Sogar Conrad warf ihm einen erstaunten Blick zu. Leon hörte aufmerksam zu, soweit seine Schmerzen es zuließen. »Eigentlich war ich überall Verteidiger, rechts, links, in der Mitte. Mir ist jeder Stürmer recht gewesen,

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