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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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der Täuschung, bevor die Zeit kam, die Lunte zu legen und die Leute, die es verdienten, in die Luft zu jagen.
    Noah sah in die Runde und zweifelte kurzfristig an den Fähigkeiten der beiden. Andererseits, überlegte er, kannte er sie kaum. Und was manchmal so aus ihren Köpfen tönte, hörte sich dermaßen irre an, dass sie vielleicht doch noch einen sehr nützlichen Irrsinn beisteuern könnten.
    »Stimmt«, sagte Noah. »Wir sind feig und das bleiben wir auch.« In dem Moment, als er einen Blick zur Kamera über der Tür warf, waren draußen Schritte zu hören.
    Wortlos standen die Jungen vom Tisch auf. Sie drehten sich zur Wand, und Conrad und Leon, der vor lauter Herzklopfen nach Luft schnappte, knieten sich hin. Das Schloss wurde aufgesperrt. Ein leises Wimmern war zu hören.
    »In zehn Minuten Licht aus«, sagte eine Männerstimme. Der Mann verriegelte das Schloss und ging zurück nach oben.
    Noah drehte sich als Erster um.
    Maren und Sophia hielten sich an den Händen und sahen unverändert aus. Ihre Augen waren gerötet und nass, ihre Gesichter weißer als Schnee. Ihre Beine zitterten. Das Wimmern drang durch Marens geschlossenen Mund.
    Die drei Jungen und die zwei Mädchen standen sich gegenüber und brachten kein Wort heraus.
    Minuten vergingen.
    Dann machte Conrad einen Schritt, verharrte und kratzte sich heftig am Kopf. Leon hatte die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass die Fingernägel seine Haut aufritzten. Noah war starr vor Hass, wie damals in der pechschwarzen Zeit.
    Dann erlosch das Licht.
    Sie standen da und bewegten sich nicht. Weitere Minuten, eine Viertelstunde lang. Die Dunkelheit kam ihnen so dunkel vor wie nie zuvor.
    Plötzlich endete das Wimmern und eine tonlose Stimme sagte: »J-jemand h-hat m-mir m-mein H-Handy ge-gestohlen.«

15
    In dieser Nacht schlief niemand. Sie lagen, zugedeckt bis über den Kopf, auf ihren Matratzen und gaben keinen Laut von sich. Jeder irrte durch seine eigene unterirdische Welt und horchte auf eine vertraute Stimme, hielt Ausschau nach einem winzigen Licht in der Finsternis.
    Jeder hatte begriffen, dass die Zuversicht, an der sie so verzweifelt hingen, bloß ein lächerliches Spiel war, wie Mensch-ärgere-dich-nicht. Sophia dachte die ganze Zeit an Gott, doch er schien nicht an sie zurückzudenken. Warum schläfst du, Herr?, sagte sie stumm, wie sie es in den Psalmen gelernt hatte. Wach auf! Warum verbirgst du dein Gesicht, vergisst unsere Not und Bedrängnis?
    Sie lauschte. Unsere Seele, dachte sie, ist in den Staub hinabgebeugt, unser Leib liegt am Boden, steh auf und hilf uns, erlöse uns.
    Sie blieb allein wie noch nie. Sie verachtete sich, weil sie zu feige gewesen war, das Tuch um ihren Hals binden zu lassen und sich zu strangulieren, wie sie es vorgehabt hatte. In der Gegenwart von Maren hatte sie die Tat nicht übers Herz gebracht. Die ganze Zeit waren sie diesmal zusammen gewesen.
    Sie wollte Maren beschützen, das war ihr einziger Gedanke. Und dieser Gedanke war so sinnlos wie das Beten und Flehen unter der Decke. Sie lebten immer noch. Wozu?
    Wer konnte ihr diese Frage beantworten? Wozu leben, wenn man kein menschliches Wesen mehr war? Wenn alle Wesen der Welt keine Arme mehr besaßen. Wenn das Umarmen ausgestorben war und niemand mehr beim Abschied winkte? Wenn der liebe Gott schon vor Millionen Jahren den Himmel zugesperrt und seitdem immer nur so getan hatte, als wären die Menschen in seinen Händen. Dabei waren sie allein im Weltall und würden es für alle Zeit bleiben.
    Sie hatte Maren nicht beschützen können. Wenigstens war sie in ihrer Nähe gewesen, und auch wenn sie sie nur unter Zwang berührte, war es doch eine Berührung und Marens Haut eine lebendige Gegenwart.
    Sophia horchte in die Stille. Da war kein Wimmern mehr, und sie verweilte beim Gedanken, dass Maren doch noch eingeschlafen sein könnte.
    So war es aber nicht. Maren schlief nicht. Manchmal öffnete sie die Augen, um festzustellen, ob die Welt noch existierte. Sie war jedes Mal enttäuscht.
    In der Finsternis hinter ihren geschlossenen Augen zuckten Blitzlichter. Dann sah sie eisige Gesichter und graue Hände, die nach ihrem Körper schnappten. Später kehrte die Stille zurück und war für sie fast so etwas wie ein Trost. Aber Trost, das hatte sie verstanden, war bloß Einbildung und nichts wert. Auch Sophia war kein Trost gewesen, nur eine Einbildung, aber das machte nichts.
    Ohne Einbildung wäre sie schon gestorben, dachte Maren und fragte sich im nächsten Moment,

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