Die unterirdische Sonne
weitermachten.
»Was spielen wir?«, fragte Conrad.
Noah stützte sich auf seinen Stock. Die Haare hingen ihm seitlich vom Kopf. »Hörst du nicht zu? Wir spielen leben. Auf geht’s!«
Nichts passierte.
Leon hielt wieder einmal die Luft an. Als er endlich ausatmete, musste er husten. Noah und Conrad saßen reglos da und schauten zur Eisentür. Das irritierte Leon so sehr, dass er sich räusperte, was er nie zuvor getan hatte.
»Was war das denn?«, fragte Noah.
Leon wusste nicht, was Noah meinte, traute sich aber nicht, ihn anzusehen.
»Bist du krank?«
Leon schüttelte den Kopf.
»Klingt aber so.«
»Bin nicht krank.«
»Du siehst krank aus.«
Conrad hielt mit dem Wippen inne, sagte aber nichts.
»Nicht, dass du uns alle ansteckst«, sagte Noah.
»Ich steck niemand an«, sagte Leon.
Dann schwiegen sie wieder. Conrad wippte weiter mit dem Stuhl.
»Und?« Noah warf Conrad einen Blick zu und verzog dabei den Mund. »Spürst du’s?«
»Was?«
»Das Leben.«
Ungerührt schwang Conrad vor und zurück.
»Am Anfang war ich lang allein hier«, sagte Leon.
Nach einem Moment sagte Noah: »Glückspilz.«
»Dann ist Maren gekommen, aber erst viel später.«
»Du und die Stotterin allein in einem Zimmer«, sagte Noah.
»Das ist kein Zimmer«, sagte Conrad.
Leon sah zu Boden. »Wir haben ewig nicht miteinander gesprochen. Hab nicht gewusst, dass sie stottert.«
»Ist klar.« Noah blickte immer noch zur Tür.
Conrad bewegte sich nicht mehr. Er sah zur Wand hinter Leon, mit traurigen, müden Augen. Leon senkte den Kopf, verstört von einer Erinnerung, die er nicht gebrauchen konnte.
Immer wieder hatte Maren sich am Anfang an ihn geklammert, hatte ihn umarmt und auf den Hals geküsst, und er stand da, mit hängenden Armen, aus tausend Gr ünden heulend, minutenlang oder eine Stunde. Er spürte den Körper des Mädchens und wollte sie wegstoßen und gleichzeitig festhalten. Verzweifelt überlegte er, wann sie ihn das letzte Mal umarmt hatte. Es fiel ihm nicht ein. Wahrscheinlich dachte Maren, er würde wegen ihr heulen. Und beim nächsten Mal hatte er wieder nicht mit Marens Umklammerung gerechnet. Immer erwischte sie ihn in einem Augenblick, in dem er weit weg war in seinem Kopf und manchmal sogar Fußball spielte und einen Superpass in den freien Raum schlug, den sein Freund im Sturm haargenau erwischte und direkt verwandelte. Besser hätte auch Philip Lahm den Ball nicht spielen können. Als er den Kopf hob, waren vier Augen auf ihn gerichtet.
»Du solltest was trinken«, sagte Noah. »Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.«
»Ich kipp nicht um«, sagte Leon.
»Und seit wann bist du hier?«, fragte Noah Conrad.
»Wieso hast du auf dem Foto im Fernsehen ein weißes Hemd und eine Krawatte an? Wer zieht sowas an?«
»Ich.«
»Und wieso?«
»Geburtstag meiner Ex-Mutter.«
»Ihr habt also doch noch Kontakt«, sagte Conrad.
»Hab ich was anderes behauptet?«
»Ja.«
»Du hörst nicht richtig zu.«
»Ist auch egal«, sagte Conrad.
»Das war ihr letzter Geburtstag.«
»Ist sie gestorben?«, fragte Leon.
»Weiß ich nicht.«
»Wieso weißt du das nicht?«, fragte Conrad.
»Wieso ich das nicht weiß? Lass mich mal nachdenken.« Er hielt den Griff seines Stocks an den Kopf, zog die Stirn in Falten. »Jetzt fällt’s mir ein: Ich bin gekidnappt worden.«
Beinah wäre Leon wieder ein Lächeln entwischt. »Dann lebt sie bestimmt noch«, sagte er schnell.
Noah drehte den Stock in den Händen. »Glaub ich auch. Doch, mein Glaube ist stark.«
»Du ziehst dir also für deine Ma ein weißes Hemd an und bindest dir eine Krawatte um«, sagte Conrad.
»Selbstverständlich.«
»Brav.«
»So bin ich.«
»Wie ist das mit deinem Bein passiert?«, fragte Conrad erneut.
»Wie du gesagt hast: Ich bin verunglückt. Aber: nicht tödlich. Oder doch?«
Conrad beugte sich über den Tisch. »Wir sind so feige. Wir sagen überhaupt nicht, was wir denken und fühlen. Wir tun nur so, wir alle drei.«
Noah spielte eine Zeit lang mit dem Stock. Leon rieb die Knöchel seiner Fäuste aneinander.
Jeder von ihnen weigerte sich zu denken, dass Conrad möglicherweise recht hatte. Insgeheim wussten sie, dass er recht hatte, aber sie hatten zu viel Angst, es zuzugeben. Auch Noah, der an einem vagen Plan arbeitete und seine Rache mit dem schwarzen Gift seiner Erinnerungen nährte, in der Stille des Abends, angeblich ein Sonntag. Vielleicht gehörte Feigsein schon zum Plan und war eine Phase der Entspannung und
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