Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
was daran schlimm wäre. Nichts, sagte sie sich, und spürte wieder das schwarze Feuer, das in ihr wütete.
    Immer, wenn sie im Lauf des vergangenen Tages versucht hatte, an Schnee zu denken, fraß das schwarze Feuer jede einzelne Flocke wie ein Tier, und Maren zappelte in derselben Welt wie vorher einfach weiter. Kein Entkommen in keiner Sekunde. Sogar, als sie begann, sich Sophia ganz aus Schnee vorzustellen, zerstörte das schwarze Feuer vom Herzen her ihre Gedanken.
    Jetzt, unter der Decke, mit an den Körper gepressten Beinen, kehrte Maren mit der allerletzten Kraft, die ihr geblieben war, ans Bett ihrer besten Freundin zurück. Denn sie wollte Annabel noch einmal berühren, um zu wissen, dass sie am Leben und keine Einbildung gewesen war.
    Und sie wollte Annabel vorlesen, aus einem unsichtbaren Buch. Das war doch ihre Pflicht.
    Dann fiel ihr etwas Furchtbares ein: Sie konnte nicht mehr lesen! Sie stotterte nur noch, sie hatte keine Sprache mehr, nur noch zerrissene Worte aus verbogenen Buchstaben.
    Sie taugte nichts mehr als Freundin, dachte sie, sie war zu nichts mehr nutze außer zum Benutztwerden. Sie war bloß noch ein Lumpen in der Dunkelheit.
    Beinah hätte sie einen Schrei ausgestoßen. Kalte Tupfer berührten ihre Schulter, wie verirrte Schneeflocken. Sie erschrak so heftig, dass sie mit der Stirn auf dem Boden neben der Matratze aufschlug. In einem Reflex kniff sie die Lippen zusammen und unterdrückte einen Laut. Das Tupfen hörte nicht auf.
    Zaghaft rollte sie auf die Seite. Sie achtete darauf, dass die Decke sich kaum bewegte, traute sich nicht, die Augen wieder zu öffnen, die sie nach dem Aufprall sofort fest geschlossen hatte. Dass ihre Hände zitterten, bemerkte sie erst, als jemand mit zwei Fingern über ihre linke Hand strich.
    Unauffällig hatte Sophia ihre Matratze herangeschoben, nachdem Marens Unruhe, von der diese glaubte, sie wäre nur in ihrem Innern, immer stärker geworden war.
    Erleichtert umklammerte Maren Sophias warme Hand und rückte näher zu ihr. So spürte sie Sophias stillen Atem. Und sie begann, ihrer Freundin im Krankenhaus und ihrer Freundin auf der Matratze neben ihr ein Märchen zu erzählen.
    Obwohl sie soeben nichts als Abscheu gegenüber sich selbst und der Welt empfunden hatte, löste Sophias Berührung eine Art Zauber in ihr aus, für den sie so unendlich dankbar war, dass sie ihr ein Geschenk machen wollte. Kein Wort drang aus ihrem Mund, aber sie war überzeugt, Sophia würde sie trotzdem hören.
    Das Märchen dachte sie sich beim Erzählen erst aus – oder sie hatte es schon lange in sich getragen und bloß nicht erkannt. Zwischendurch huschte ein Lächeln über ihre geschlossenen Lippen.
    »Es war einmal eine Schneeflocke, die hatte sich verflogen. Das wusste sie aber zuerst nicht, weil dort, wo sie schließlich landete, alles weiß war. Ein wilder, gemeiner Wind hatte sie so weit von ihren Freundinnen weggetrieben, dass sie ganz verwirrt und auch wütend liegen blieb. Aus lauter Zorn beschloss sie, nicht zu schmelzen. Das war auch nicht schwer, denn auf dem weißen Fleck war es kalt, fast so kalt wie da, wo sie herkam.
    Überhaupt herrschte in der Gegend eine frostige, abweisende Stimmung, die sie sonst vom Winter überhaupt nicht kannte. Vielleicht, dachte sie, war der neue Winter genau so wütend wie sie, weil er eigentlich woanders sein wollte, in Alaska oder Finnland, und aus irgendeinem gemeinen Grund jetzt hier sein musste, monatelang.
    Die Schneeflocke – sie hieß übrigens Annabel – schaute sich um. Nach Alaska oder Finnland sah es hier nicht aus, auch wenn sie zugeben musste, dass sie noch nie in einem der beiden Länder gewesen war. Abgesehen von der weißen Insel, über der sie schwebte, weil ein neuer Windhauch sie aufgescheucht hatte, herrschte vor allem die Farbe Grau vor. Sogar das Licht schien von einer grauen Sonne zu kommen.
    Verwirrt ließ Annabel sich eine Weile treiben. Dann stand plötzlich ein riesiger Mensch vor ihr. Von ihrem Großvater hatte sie gelernt, dass die Menschen aus der Sicht der Schneeflockenfamilie grundsätzlich eher groß und bedrohlich wirkten.
    Doch der blaue Mann kam ihr wie ein Monster vor. Und als er sich direkt vor ihr auf einen Stuhl setzte und sie anstarrte, zitterte sie so sehr, dass sie an einen dieser flatternden Schmetterlinge denken musste, von denen ihre Mama oft erzählte, wenn sie sich einsam fühlte.
    Schade, dass meine Mama jetzt nicht hier ist, dachte Annabel. Sie hoffte, der blaue Mann würde sie

Weitere Kostenlose Bücher