Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
nicht bemerken und in seiner Faust zerquetschen oder verschlucken, was angeblich manche Menschen, vor allem Kinder, gerne aus Übermut taten. Das hatte ihr der Großvater erzählt, und sie dachte bis heute, dass die Menschen nicht übermütig waren, sondern bloß gefräßig.
    Der Mann machte keinen Mucks. Er saß nur da. Wie verzaubert betrachtete er die weiße Insel, mit einem seltsam versonnenen Gesichtsausdruck, den Annabel von Menschen kannte, die aus dem Fenster sahen, wenn sie vorbeiflog.
    Lautlos, wie es ihrer Art entsprach, drehte sie ein paar Runden und begriff ganz langsam, wohin es sie verschlagen hatte. An einem solchen Ort war sie noch nie gewesen.
    Wie war sie überhaupt hereingekommen?, fragte sie sich, bevor ihr Blick auf das kleine Fenster mit den Gitterstäben fiel. Von Gefängnissen hatte sie schon oft gehört. Wenn Menschen etwas Böses getan hatten, so hieß es, mussten sie zur Strafe den Rest ihres Lebens in vergitterten Räumen verbringen und durften nur zum so genannten Luftschnappen ins Freie. Für Annabel lebten alle Menschen mehr oder weniger hinter Gittern. Jedenfalls empfand sie Häuser und ähnliche Gebäude, egal, wie groß sie sein mochten, als ganz schön beklemmend und unluftig.
    Den blauen Mann schien Luft nicht zu interessieren. Er hatte jetzt einen Bleistift in der Hand und kritzelte wirre Gestalten mit unheimlichen Gesichtern auf die weiße Papierinsel, die fast so groß war wie der Tisch.
    Wie von einem Feuer gejagt – so kam es Annabel vor – malte der Mann immer neue Figuren. Einige standen auf dem Kopf, andere hatten keine richtigen Beine und Arme, wieder andere schienen aus den Augen zu schreien. Annabel bekam Angst beim Hinschauen.
    Dann war aus der weißen Insel eine schwarzgraue Hölle voller Fratzen und Dämonen geworden. Annabel fürchtete schon, der Mann würde das Bild an die Wand hängen. Da packte er das Stück Papier, zerknüllte es in der Faust und schleuderte es mit grimmiger Entschlossenheit durch die Gitterstäbe nach draußen, haarscharf vorbei an Annabel.
    Nachdem sie zur Beruhigung einige Runden auf dem Rücken geschwebt war, stellte sie fest, dass der Mann in der blauen Latzhose ein neues weißes Blatt vor sich hingelegt hatte. Unter dem Tisch, das sah Annabel erst jetzt, befand sich in einem Karton ein ganzer Stapel Papier.
    Und wieder begann der Mann, Gesichter zu malen. Wieder füllte er die Seite vollständig mit schauerlichen, krummen, abgehackten, himmelschreienden Figuren. Kreuz und quer fegte er mit dem Stift übers Papier, packte dann das Blatt, presste es mit roher Gewalt in der Faust zusammen und warf es aus dem Fenster.
    Das ging stundenlang so weiter. Annabel überlegte schon zu verschwinden, denn draußen in der Luft herrschte mittlerweile ein munteres Treiben, an dem Hunderte ihrer Freundinnen beteiligt waren.
    Doch als der Mann in Blau das ungefähr fünfzehnte Blatt vom Boden nahm und mit dem verbliebenen Stumpen seines Bleistifts ansetzte, die Geisterbahn seiner Fantasie ein weiteres Mal in Gang zu setzen, hatte Annabel eine Idee.
    Unauffällig schwebte sie vom Fenster, wo sie sich zur Entspannung an einen der Eisenstäbe geschmiegt hatte, zum Tisch und peilte genau die Hand des Mannes an. Die Hand war voller Haare, das ekelte sie ein wenig, aber sie ließ sich nicht abschrecken.
    Jedes Mal, wenn der Mann auch nur ein halbes Auge malen wollte – und er fing immer mit den Augen an –, hüpfte Annabel vor der Bleistiftspitze hin und her und machte sie ganz irre. Und den Mann ebenso. Er hatte keine Ahnung, was vor sich ging. Seine Hand zuckte und zappelte, und so sehr er sich auch anstrengte, sie ruhig zu halten, es gelang ihm nicht. Schließlich ließen seine Finger den Stift fallen. Das ärgerte ihn so sehr, dass er aufsprang, mit der flachen Hand mehrmals auf den Tisch schlug und üble Flüche ausstieß.
    Zum Glück war Annabel eine flinke und gewandte Schneeflocke und entkam den Attentatsversuchen rechtzeitig.
    Der blaue Mann schnaubte, fuchtelte mit den Armen und war kurz davor, den restlichen Packen Papier zu nehmen und aus dem Fenster zu schmeißen, und den Bleistift hinterher. Doch dann besann er sich.
    Etwas nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch, das er bisher nicht bemerkt hatte. Und er war sofort überzeugt, dass es reine Einbildung war, was er zu sehen glaubte: eine Schneeflocke! In seiner Zelle! Über seinem Tisch!
    Erschöpft ließ er sich auf den Stuhl fallen und starrte eine Weile den leeren abgeschabten Holztisch an. Seit

Weitere Kostenlose Bücher