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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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vier Jahren hockte er in dieser Zelle. In der Anfangszeit hatte er jede Menge Halluzinationen gehabt, und eigentlich hatte er gedacht, die Phase wäre vorüber und er habe sich an den trostlosen Knastalltag gewöhnt, an die immer gleichen Abläufe, das immer gleiche Nichts.
    Einen Versuch wollte er noch riskieren. Früher, vor dreißig Jahren in der Schule, war er ein guter Zeichner gewesen, hatte im Zeugnis immer eine Eins gehabt und verdiente später sogar Geld mit seinem Talent. Er malte Filmplakate für ein heruntergekommenes Kino, das nur Filme aus den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zeigte. Dann wurde das Kino geschlossen und das Gebäude abgerissen. Kurz darauf stand er zum ersten Mal vor einem Richter, der ihn auf Bewährung verurteilte. Beim nächsten Mal kam er nicht so glimpflich davon.
    In seiner Vorstellung tauchte wieder eines der Gesichter auf, die er oft im Traum sah und die ihn verfolgten, bis er schweißgebadet auf seiner Pritsche aufwachte. Irgendwann kam er auf die Idee, seine Albträume aufzumalen, damit er so vielleicht weniger Angst vor ihnen hatte. Das klappte aber nicht richtig – in der nächsten Nacht träumte er von noch viel schrecklicheren Gesichtern und Wesen –, und so steigerte er sich immer mehr in einen Wahn hinein. Er war nämlich fest davon überzeugt, dass sein künstlerisches Talent einen Sinn haben und ihn von seinem inneren Grauen befreien musste.
    Nach dem ersten Strich folgte ein zweiter, der völlig anders aussah als der, den er eigentlich vorgehabt hatte. Er wollte das Auge weiterzeichnen und zog stattdessen nur einen Strich. Es war, als würde seine Hand von alleine zeichnen. Als wäre die Schneeflocke, die der Mann in Blau natürlich längst aus den Augen verloren hatte, magnetisch, und als würde der Bleistift von ihr magisch angezogen.
    Der Mann schaute seiner Hand zu, wie sie zeichnete, feine Linien, lang und kurz, ein raffiniert gesponnenes Muster, das bald so aussah, als wäre es dreidimensional. Der Mann vergaß zu atmen vor lauter Staunen. Er bemerkte nicht einmal, dass es immer kälter wurde und immer mehr Schneeflocken durch das Fenster hereinfielen und ihn umtanzten.
    So etwas Schönes hatte er noch nie gezeichnet. Er hätte nie für möglich gehalten, dass er dazu fähig wäre. Vielleicht, dachte er, bin ich ja doch ein Künstler, und meine Fantasie trägt mich eines Tages hinaus in die Freiheit.
    Und während er noch darüber nachsann, wie es wäre, wenn endlich die Wahrheit ans Licht käme und der Richter, der ihn wegen eines angeblichen Verbrechens zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt hatte, das Geständnis des wahren Mörders zu hören bekäme, verschwand nicht nur seine rechte Hand in der Zeichnung.
    Auch die Arme des Mannes in Blau und sein massiger Oberkörper tauchten in das kleine gezackte Bild ein. Sein Bauch, seine Beine und am Ende sein Kopf wurden eins mit der wundervollsten Schneeflocke, die je ein Mensch auf ein weißes Blatt Papier gezeichnet hatte. Und derselbe Wind, der Annabel von weit her aus Versehen in die Zelle hinter den Gitterstäben geweht hatte, trug nun sie und die zweite Schneeflocke, die Henrik hieß und etwas breiter und schwerer war, hinaus in den glitzernden Abend der Stadt.
    Und Annabel und Henrik schwebten über die Dächer und Lichter bis nach Alaska. Dorthin hatte Henrik schon ewig mal gewollt. Und von Alaska aus zogen sie weiter bis hinauf zu den Wolken am lautlosen Himmel.
    Und wenn sie nicht geschmolzen sind, kehren sie noch heute jedes Jahr auf die Erde zurück und tanzen in unseren Träumen, damit wir uns nicht fürchten.«
    Maren verstummte, obwohl sie gar nicht gesprochen hatte.
    Sophia hielt noch immer ihre Hand. Und als Maren zaghaft erst das eine, dann das andere Auge öffnete, wurde ihr bewusst, dass sie während der ganzen Geschichte nicht ein einziges Mal gestottert hatte. Sie gab der schlafenden Sophia einen schneestillen Kuss auf die Wange, zog die Decke über den Kopf und lächelte beim Gedanken an das Gesicht des Gefängnisdirektors, wenn er die leere Zelle betrat, deren Eisentür doch immer abgeschlossen war.
    Wie gewöhnlich brachte einer der Männer am Morgen gegen acht Uhr für jeden Jugendlichen eine Scheibe Schwarzbrot mit Butter und Erdbeermarmelade und eine Tasse Schokolade. Die Scheiben waren an diesem Montag besonders dick geschnitten und die Getränke waren heißer als sonst. Wie immer hatte der Mann das Tablett auf die Anrichte gestellt und war wieder nach

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