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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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voll hart Tag und Nacht arbeiten, weil sie zwei Söhne hatte, mit denen sie allein in einer kleinen Stadt an einem Fluss lebte. Die Frau hieß Marissa und sie war stumm. Das störte aber niemanden, außerdem hatte eine Putzfrau sowieso keine Zeit fürs Reden. Und ihre Ohren waren normal, sie konnte also gut hören, was die Leute zu ihr sagten. Manchmal glaubten Chefs, sie könnten Marissa reinlegen, weil sie stumm war und deswegen irgendwie behindert und wehrlos. Da hatten sie sich böse getäuscht.
    Marissa ließ sich von niemandem betrügen. Höchstens von ihren Söhnen, aber das kam nur daher, dass sie immer so müde war, wenn sie nach Hause kam, und keine Kraft mehr hatte, die Tricks ihrer Söhne zu durchschauen.
    Die Söhne waren Zwillinge, der eine wusste immer, was der andere dachte, und dann heckten sie gemeinsam was aus und lachten sich kaputt, wenn jemand drauf reinfiel. Sie gingen in die zweite Klasse. Nach der Schule streiften sie durch die Stadt, bekamen beim Bäcker eine frische Breze geschenkt und im Sommer eine Limo dazu. Beim Metzger kauften sie eine frische Leberkässemmel und spielten zu Hause stundenlang mit ihrer Eisenbahn. Die Schienen gingen quer durch ihr Zimmer, und sie stellten sich vor, wie sie eines Tages in die weite Welt hinausfuhren, bis nach Spanien oder England, wo die besten Fußballmannschaften spielten.
    Denn außer ihrer Eisenbahn liebten Finn und Timm – so hießen die beiden – total den Fußball. Beide waren Verteidiger, wobei Finn auch oft in den gegnerischen Strafraum vorpreschte und manchmal sogar ein Tor schoss. Timm war ein Dribbelkünstler. So schnell konnten die Gegner ihn gar nicht foulen, wie er ihnen entwischte und gleichzeitig einen tödlichen Pass schlug.
    Ihre Mutter liebte beide Kinder gleich viel. Sie schuftete Tag und Nacht und trotzdem reichte das Geld nie für Urlaub und besondere Ausgaben. Zum Beispiel für den Beitrag in dem großen Fußballverein, bei dem Timm und Finn vielleicht hätten trainieren können. Wenn sie ihrer Mutter davon erzählten, wurde sie traurig und weinte. Sie mussten sie dann trösten und ihr versichern, dass sie auch so glücklich und stolz auf ihre Mutter waren, weil sie immer gut für sie sorgte, obwohl sie überhaupt keine Stimme hatte und viele Leute sie wie eine Aussätzige behandelten.
    Für Finn war das eine besonders harte Zeit. Er war ehrgeiziger als sein Zwillingsbruder und wollte unbedingt Profispieler werden. Immer wieder redete er auf Timm ein, dass sie sich gemeinsam bewerben sollten, dann hätten sie die größeren Chancen, auch ohne Geld.
    Du und ich, wir sind unschlagbar, sagte Finn.
    Ich weiß nicht, sagte Timm. Unsere Mutter ist dann böse, wenn wir weggehen und sie allein lassen, sie hat doch sonst niemanden.
    Sie findet schon wieder jemanden.
    Wen denn?, wollte Timm wissen.
    Irgendwen.
    Manchmal konnte Finn ganz schön gemein sein. Seit ihr Vater sie und die Mutter verlassen hatte, benahm sich Finn an bestimmten Tagen wie ein gefährlicher Krieger, der böse Dinge ausheckte und unberechenbar war. Auch auf dem Spielfeld. Dann rannte er über den Rasen, ohne Rücksicht auf die eigenen Leute, jagte dem Gegner den Ball ab, auch mit einem Foul, und war von niemandem zu bremsen. Finn legte sich den Ball zurecht und haute ihn volles Rohr ins Tor. Wenn der Torwart zufällig im Weg stand, brauchte er hinterher einen Arzt. Und keine Minute später trabte Finn brav wie ein Lamm über den Platz, ließ sich vom Schiedsrichter reumütig die gelbe Karte zeigen und entschuldigte sich nach dem Abpfiff beim gegnerischen Torwart für den brutal harten Schuss.
    Timm hatte schon kapiert, dass sein Bruder mehr unter der Trennung seiner Eltern litt als er. Aber wieso er eigentlich nie so wütend wurde wie Finn, wusste er nicht.
    Wenn die beiden einmal nicht gemeinsam unterwegs waren – Finn trainierte gern allein, machte Waldläufe, schwamm im Fluss –, saß Timm einfach nur stumm da. Er redete mit niemandem, nicht mal mit sich selbst. Beim Spielen mit der Eisenbahn bediente er bloß den Trafo, schaltete die Weichen, hob eine Lokomotive auf ein anderes Gleis, hörte dem leisen Brummen der Züge zu und schwieg. Anders als mit seinem Bruder, machte Timm keine einzige Ansage oder ließ Fahrgäste fluchen, wenn sie zu spät zum Bahngleis kamen. Timm hockte nur da und schaute zu. Und wenn er Hunger kriegte, ging er rüber in die Bäckerei und zeigte wortlos auf eine Breze. Wenn die Verkäuferin sie ihm nicht schenkte, bezahlte er, ohne

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