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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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draußen gegangen. Er schloss die Tür hinter sich, ohne sie abzusperren, und wartete.
    Die Jugendlichen setzten sich zum Frühstück an den Tisch.
    Niemand sprach ein Wort.
    Unaufhörlich flogen Blicke zwischen ihnen hin und her. Sophia wunderte sich über Marens fragenden Blick, den sie ihr mehrmals mit gesenktem Kopf zuwarf, aber dann dachte sie nicht weiter darüber nach.
    Weil sie schlaftrunken wie nach einer verwirrenden Reise aufgestanden war, glaubte Maren eine Zeit lang, sie habe Sophia das Märchen wirklich erzählt. Erst nach und nach und vielleicht durch den Geschmack der süßen Schokolade kehrte sie in die Gegenwart zurück und begriff, wieso Sophia auf ihren Augenkontakt nicht reagierte.
    Bald jedoch, als sie bemerkte, wie die anderen einander fast flehend anschauten, kam Maren eine Idee.
    Nach dem Frühstück rechnete jeder damit, dass der Mann einen von ihnen mitnehmen würde.
    Conrad hoffte, er würde es sein. Dann wollte er eine Gelegenheit suchen, sich zu wehren, um getötet zu werden.
    Sophia hoffte, sie würde es sein. Dann wollte sie das Tuch, mit dem sie gefesselt wurde, so geschickt um ihren Hals schlingen, dass keiner der Männer sie rechtzeitig retten könnte.
    Noah hoffte, er würde es sein, um im exakt richtigen Moment zuzuschlagen, auch ohne Hammer, und die Dinge wieder ins richtige Lot zu rücken.
    Leon hoffte, er würde es sein, damit Maren nicht nach oben musste, deren Anblick ihn in der Früh so erschreckt hatte. Sie kam ihm vor wie ein Wesen, das schon gestorben war, aber nicht schlafen durfte. Am liebsten hätte er ihr sein Sweatshirt und seine Trainingshose geliehen, weil sie in dem weißen fleckigen Kleid aussah wie das Mädchen in der Geschichte, die ihm seine Mutter einmal erzählt hatte. Das Mädchen, das alles verschenkte, obwohl es selber arm und einsam war und durch eine eisige Winternacht laufen musste. Mehr wusste Leon von der Geschichte nicht mehr, auch nicht, wie sie ausging.
    Doch der Mann holte nur das Tablett ab. Er verriegelte die Eisentür von außen und stieg die Treppe hinauf.
    Einige Minuten lang war es wieder einmal ganz still.
    Die Jugendlichen saßen bewegungslos am Tisch. Conrad, der mit Putzen an der Reihe war, machte keine Anstalten, aufzustehen. Er saß neben Noah mit dem Rücken zur Wand, mit verschränkten Armen, wie sonst vor dem Fernseher. Noah stützte sich auf seinen Stock, in sich versunken, und die Haare hingen ihm vors Gesicht. Sophia, die an der rechten Schmalseite saß, stützte die Arme auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht hinter den Händen.
    »H-hört m-mal z-zu«, sagte Maren in die Stille. Leon war der Einzige, der ihr sofort den Kopf zuwandte. »I-ich m-möchte, d-dass j-jeder j-jetzt ein M-Märchen e-erzählt, j-jeder von e-euch. D-das ist m-mein W-Wunsch.« Sie war außer Atem und schnappte nach Luft. »D-da ist g-ganz w-wichtig«, fügte sie hinzu.
    Nach einem Schweigen fragte Noah: »Wieso soll das wichtig sein?«
    »Ich weiß kein Märchen«, sagte Leon, der das arme Mädchen aus der Geschichte schon wieder vergessen hatte.
    »J-jeder d-denkt s-sich eins a-aus.«
    »Ich geh sauber machen.« Conrad wollte aufstehen.
    »S-sitzenbleiben!«, sagte Maren energisch. Die laute Stimme hätte ihr niemand zugetraut. Alle sahen sie an. »I-ich w-will das s-so. Ei-einfach s-so. Und d-du f-fängst an, L-Leon.«
    Jetzt sahen alle den Zwölfjährigen mit der grünen Hose und dem gelben Sweatshirt an. Er zuckte zusammen und schüttelte heftig den Kopf und hörte nicht mehr damit auf.
    »Auf geht’s!«, sagte Noah unvermittelt.
    Leon schüttelte weiter den Kopf. Die anderen warteten ab.
    »B-Bitte«, sagte Maren. »W-wir er-erzählen u-uns a-alle ein M-Märchen. W-Wie f-früher.«
    »Mir hat nie wer ein Märchen erzählt«, sagte Noah.
    »D-dann w-wird’s Z-Zeit.«
    Wie in der Nacht griff Sophia nach Marens Hand. »Ich finde das eine gute Idee. Genau, und du fängst an, Leon.«
    Abrupt hörte Leon auf, den Kopf zu schütteln. »Warum denn ich?« Dann horchte er Sophias Stimme nach, denn sie klang fast so wie früher, klar und fest und unüberhörbar.
    »Ich muss erst nachdenken«, sagte er und schaute Sophia immer noch an, während sein Satz schon längst zu Ende war.
    »Wir haben Zeit«, sagte Sophia.
    »D-danke«, sagte Maren und strich Leon zweimal über die Wange. Die Berührung strömte durch seine Haut direkt bis zur Zunge.
    »Es war einmal …«, sagte er, als wüsste er schon eine Geschichte.

16
    »Es war einmal eine Putzfrau, die musste

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