Die unterirdische Sonne
gefunden, und vielleicht sogar einen neuen Freund.
Seit einiger Zeit – es war schon Dezember – tauchte regelmäßig eine Krähe mit blauschwarzem Gefieder vor Timms Fenster auf. Er öffnete es und sie hüpfte unerschrocken auf dem Fensterbrett herum. Wenn sie krächzte, klang es, als würde sie mit ihm sprechen. Anfangs fürchtete er sich vor ihr. Sie hatte einen langen, gebogenen Schnabel und dunkle, unheimlich leuchtende Augen.
Hast du einen Namen?, fragte Timm eines Nachmittags.
Wahrscheinlich hatte der Vogel schon darauf gewartet, dass Timm von der Schule nach Hause kam. Das Krächzen klang heiser und bestand aus verschiedenen Tönen, wenn Timm sich nicht verhörte.
Ich heiß Timm und mein Bruder, der Finn, wird mal ein berühmter Fußballspieler.
Wieder stieß die Krähe unterschiedlich laute Töne aus. Dann spazierte sie über das Fensterbrett und hüpfte plötzlich ins Zimmer. Vor Schreck machte Timm einen Satz zur Seite, stolperte über einen herumliegenden Hausschuh und fiel hin. Das Krächzen der Krähe klang wie ein gemeines Lachen.
Timm sprang auf, fuchtelte mit den Händen und wollte den Vogel aus dem Fenster scheuchen. Aber der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er hüpfte durchs Zimmer, als wäre er hier zu Hause, sprang aufs Bett, trippelte über die Kissen und betrachtete mit schrägem Kopf die Kuscheltiere. Timm streckte die Hände nach dem Eindringling aus, seine Fingerspitzen berührten schon fast sein Gefieder. Da spreizte der Vogel die Flügel, erhob sich in die Luft, flog eine Runde durchs Zimmer und setzte sich schließlich auf Timms Kopf.
Ratlos und mit einem ziemlich unangenehmen Gefühl auf dem Kopf stand Timm da und machte keinen Mucks mehr. Die Krallen bohrten sich in seine Kopfhaut, aber er traute sich nicht zu jammern. Er traute sich überhaupt nichts.
Der Vogel hockte auf Timms Kopf und betrachtete aus seinen großen, bedrohlichen Augen eines der Kuscheltiere. Das konnte Timm natürlich nicht sehen. Das Stofftier war ein kleiner zotteliger Löwe mit einer schon etwas ausgebleichten gelben Mähne und vielen Lücken im Fell. Timm hatte ihn seit seinem zweiten Lebensjahr, und der Löwe war jede Nacht bei ihm, seit vier Jahren. Manchmal tat Timm der Löwe leid, weil er ihn schon so oft angeweint und zusammengedrückt und im Zorn gegen die Wand geworfen hatte. Der kleine Löwe wusste mehr von ihm als sein Bruder Finn, deswegen würde er ihn auch nie im Leben hergeben oder gegen einen neuen tauschen.
Und genau diesen Löwen ließ die Krähe auf Timms Kopf nicht mehr aus den Augen. Dann stieß sie einen heiseren Schrei aus. Timm hörte das unheimliche Rascheln der Flügel. Bevor er kapierte, was geschah, war die Krähe in der Luft, packte mit ihrem riesigen Schnabel den Stofflöwen und flog zum Fenster hinaus.
Timm schaute mit offenem Mund blöde hinterher. Dann wurde er von einem solchen Zorn erfüllt, dass er so, wie er war, auf den Tisch kletterte und durchs Fenster hinaus in den Garten sprang.
Über ihm kreiste hämisch die Krähe und der Löwe hing ihr aus dem Schnabel. Als Timm einen Stein nach ihr warf, wich sie aus und flog davon.Timm rannte hinter oder unter ihr her – in genau den Sachen, die er zu Hause immer trug, durch den kalten dunklen Abend die Straße hinunter, über die Weide und auf den Wald zu. Er hatte nichts an außer seiner grünen, schlabbrigen Trainingshose und seinem gelben, ausgefransten T-Shirt. Und er war barfuß.
Das war ihm alles egal. Er wollte seinen Löwen wiederhaben. Den hatten ihm seine Mutter und sein Vater zu Weihnachten geschenkt, als sie noch zusammen gewesen waren. Finn hatte einen Elch bekommen, aber Timm meinte, der Löwe sah viel echter aus und war viel kuscheliger. Und er würde ihn sich niemals wegnehmen lassen. Schon gar nicht von einer hinterhältigen Krähe, die sich in sein Zimmer geschlichen hatte, bloß weil er so gutmütig gewesen war.
Er rannte immer weiter und vergaß die Zeit und alles. Seine nackten Füße waren eisig kalt und sein Körper war von einer Gänsehaut überzogen. Er hatte nur Augen für die Krähe und seinen kleinen Löwen, der wie eine Beute durch die Luft schwebte.
Außer Atem lehnte Timm sich an einen Baum. Es war ganz dunkel geworden. Die Bäume ragten schwarz vor ihm auf. Und so sehr er sich auch bemühte, die Lichter der Stadt konnte Timm nicht mehr erkennen. Wie weit er gelaufen war, wusste er nicht. Die Kälte krabbelte in ihm hoch wie Ameisen aus Eis. Er trippelte von einem Bein aufs andere,
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