Die Untoten von Veridon: Roman (German Edition)
davon nur noch die vom Rat gebilligte Gilde übrig. Sie gab vorwiegend Unterhaltungsvorstellungen wie das Sommermädchen oder andere Engramm-Sängerinnen, die eine sehr spezielle Sammlung von Liedern und Schauspielen vortrugen. Die Grundlage dafür bildeten die Erinnerungen der ursprünglichen Künstler, die für spätere Generationen wieder neu geschaffen wurden.
Diese Erinnerungen waren irgendwie in den Käfern gespeichert. Wilson hatte einmal versucht, es mir zu erklären. Woher Wilson es wusste, war ein eigenes Rätsel, und vielleicht wusste er es auch nicht wirklich, denn ich konnte es echt nicht verstehen. Aber grundsätzlich ließ sich eine Erinnerung in die Käferkönigin gravieren, das Muster der Sängerin und des Lieds – wie es sich anfühlte, diese Person zu sein und dieses Lied zu singen. Dann konnte man die Königin in eine Engramm-Sängerin implantieren, und ihr Schwarm von Schöpferkäfern … nun, er gestaltete die Sängerin in jene Erinnerung um. Mechagenetik spielte dabei eine entscheidende Rolle, weil die Sängerin in der Lage sein musste, den gesamten Schwarm wuselnder Käfer zu beherbergen. Die Einzelheiten der Funktionsweise dieser Maschinen waren ein innerhalb der Gilde streng gehütetes Geheimnis. Verständlich. Auch die Akademie gab nicht öffentlich bekannt, wie sie Pilotenaggregate herstellte.
Das Endergebnis jedenfalls war eine Erinnerung, die in Fleisch und Blut wiedergegeben werden konnte. Mithilfe der Käfer konnte eine Engramm-Sängerin eine ganz bestimmte Sängerin werden und ein Lied exakt so zum Besten geben, wie es vor Jahrzehnten gesungen worden war. Sogar vor Hunderten von Jahren, wenn die Königinnen entsprechend gut gezüchtet worden waren. Damit befasste sich die Gilde heutzutage. Sie züchtete Käferköniginnen, pflegte Schwärme und brachte jungen Mädchen bei, wie Erinnerungen zu singen.
Die Ankunft in Cranichs Haus beobachteten wir aus einigen Blocks Entfernung. Wir saßen im ersten Stock einer Bar mit Lichthof. Eine Automatensäule in der Mitte des Hofs spielte all die derben Szenen aus »Die fünfzig Nächte des Winters« mit klappernder, surrender Eindringlichkeit. Sogar die bemalten Holznutten wirkten verlegen. Wilson und ich tranken Kaffee und schauten aus dem Fenster.
Sie kamen in einer abgeschotteten Droschke. Der Motor war hübsch und neu. Messingplatten bewegten sich in schnellem Takt hinter den Leitblechen. Nicht die Art von Droschke, die man in diesem Viertel normalerweise sah. Was ich als schlampig empfand. Es fiel auf. Aber anscheinend kümmerte es diese Leute nicht, wenn die Gegend erfuhr, dass sie mit Cranich zu tun hatten.
Drei Gestalten gingen hinein. Sie trugen schwere schwarze Mäntel und Kapuzen. Niemand, den ich kannte, obwohl ich aus dieser Entfernung mich selbst in einem Mantel mit Kapuze nicht erkannt hätte. Keine Minute später kam eine der Gestalten wieder heraus und gestikulierte die Straße hinab. Weitere Droschken, die das Abzeichen der Ordnungshüter aufwiesen.
»Also Leute aus dem Rat?«, fragte ich. Um diese Uhrzeit befanden sich nicht viele Gäste in der Bar, dennoch sprach ich mit leiser Stimme.
»Könnte sein. Allerdings haben sich die Ordnungshüter in den letzten paar Jahren auf erschreckende Weise zu Söldnern entwickelt.« Wilson trank aus seiner Tasse und verzog das Gesicht. »Könnte auch jemand sein, der ihnen den richtigen Batzen Geld geboten hat.«
Ich murmelte etwas darüber, dass ich mir bei Gelegenheit mal eine Preisliste besorgen musste, und trank meinen Kaffee aus. Die dralle Kellnerin kam lächelnd herbei, um meine Tasse aufzufüllen. Als sie weg war, wandte ich mich wieder dem Fenster zu.
»Wohin als Nächstes? Zu den Schöpfern? In dem Umfeld kenne ich niemanden.«
Wilson hielt seine Tasse auf halbem Weg zum Mund und starrte müßig aus dem Fenster. Ich war nicht sicher, ob er irgendetwas wahrnahm.
»Lieber nicht. Wir haben andere Spuren, denen wir nachgehen können. Die Maske beispielsweise.«
»Was denkst du, was das bedeuten sollte? Was Cranich gesagt hat, meine ich.«
Wilson zuckte mit den Schultern. »Dass vielleicht diesmal du die Maske tragen wirst? Keine Ahnung. Ich denke, unser Freund Cranich könnte ein klein wenig wahnsinnig sein.«
»Ja. Ein klein wenig.« Ich lächelte. »Was mich darauf gebracht hat, war, dass er meinen toten Freund wiederbelebt hat, um sich mit uns unterhalten zu können. Weißt du, die Sache davor, als er all die Fehn in blindwütige Leichen verwandelt hat, das fand ich
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