Die Unvollendete: Roman (German Edition)
zu sein schien, seit sie ein Jahr zuvor nach Egerton Gardens gezogen war, außer dass Mr. Appleyard eingezogen worden war und seine Frau jetzt ein Baby hatte. »Einen Jungen«, sagte Renee. »Ein hässliches kleines Ding.« Jimmy lachte lauthals und sagte: »Mir gefallen Mädchen, die die Dinge beim Namen nennen.« Nicky war verstimmt wegen Jimmys angenehmer Erscheinung, vor allem aber weil Renee mittlerweile einen zweiten wässrigen Gin getrunken hatte und (auf nahezu professionelle Weise) mit Jimmy flirtete.
Ursula hörte jemanden sagen, dass der Blindgänger entschärft sei, und als Renee sagte: »Bestell noch eine Runde, Nicky«, und Nicky finster dreinblickte, hielt Ursula den Augenblick für gekommen, sich zu verabschieden. Als ginge es ums Prinzip, weigerte sich Nicky hartnäckig, sie zahlen zu lassen. Ursula war sich nicht sicher, ob sie jemandem von seinem Kaliber verpflichtet sein wollte. Renee umarmte und küsste sie und sagte: »Komm und besuch die alten Damen, sie werden sich freuen«, und Ursula versprach, es zu tun.
»Du meine Güte, ich habe schon gedacht, dass sie mich auffressen will«, sagte Jimmy, als sie über den Schutt in der Henrietta Street stiegen.
Sie hielt ihr Versprechen, als Geralds alte Kleidung eintraf. Sie kam um kurz nach sechs in der Argyll Road an, da sie ausnahmsweise mit der Arbeit früh fertig geworden war. Sie trug nach wie vor keine Uniform, da zwischen der Arbeit und den Bomben kaum Zeit war, zu essen und Luft zu holen. »Aber du leistest Kriegsarbeit«, sagte Crighton. »Meiner Meinung nach hast du genug um die Ohren. Wie geht es dem Ministerium der Dunkelheit dieser Tage?«
»Ach, du weißt schon. Viel zu tun.« Es mussten so viele Informationen verarbeitet werden. Jeder einzelne Vorfall – was für eine Art Bombe, der entstandene Schaden, wie viele Tote und Verletzte (die Zahlen stiegen erschreckend) – wurde in ihrem Büro aufgenommen.
Gelegentlich schlug sie eine braungelbe Mappe auf und las, was sie »das Rohmaterial« nannte – die von den Luftschutzhelfern getippten Berichte oder sogar die handschriftlichen Berichte, auf denen die getippten basierten –, und fragte sich, wie es war, in der Hitze des Gefechts zu arbeiten, denn das war der »Blitz« doch, oder? Manchmal sah sie Karten, auf denen Bombenschäden eingetragen waren, einmal eine von Ralph gezeichnete. Er hatte sie auf der Rückseite nahezu unsichtbar mit Bleistift unterschrieben. Sie waren befreundet, sie hatte ihn in ihrem Deutschkurs kennengelernt, er hatte angedeutet, dass er gern mehr mit ihr zu tun hätte. »Dein anderer Mann«, sagte Crighton amüsiert.
»Wie nett«, sagte Mrs. Appleyard, als Ursula mit dem Paket Kleidung vor ihrer Tür stand. »Bitte, kommen Sie rein.«
Ursula trat widerstrebend über die Türschwelle. Der frühere Geruch nach gekochtem Kohl vermischte sich jetzt mit den unappetitlicheren Gerüchen, die bisweilen in Anwesenheit eines Kleinkinds auftraten. Bedauerlicherweise bestätigte sich Renees Urteil über die – mangelnde – Schönheit von Mrs. Appleyards Baby – er war wirklich »ein hässliches kleines Ding«.
»Emil«, sagte Mrs. Appleyard und gab ihn Ursula. Sie spürte seine Feuchtigkeit durch die Gummihose. Beinahe hätte sie ihn sofort wieder zurückgegeben. »Emil?«, sagte sie zu ihm, verzog das Gesicht und grinste ihn mit falscher Fröhlichkeit an. Er starrte sie ziemlich streitsüchtig an, wer sein Vater war stand außer Zweifel.
Mrs. Appleyard bot ihr Tee an, doch Ursula entschuldigte sich und eilte hinauf in den Horst der Nesbits.
Sie waren wie immer ganz sie selbst. Es musste recht angenehm sein, mit seiner Schwester zu leben, dachte Ursula. Sie hätte nichts dagegen, den Rest ihrer Tage mit Pamela zu verbringen.
Ruth ergriff mit ihren Reisigfingern Ursulas Ringfinger. »Sie sind verheiratet! Wie wunderbar.« Verdammt, dachte Ursula, sie hatte vergessen, den Ehering abzustreifen. Sie zögerte. »Also …« Dann erkannte sie die Kompliziertheit der Sache und sagte schließlich bescheiden. »Ja, vermutlich.« Beide gratulierten ihr triumphierend, als hätte sie etwas Spektakuläres getan.
»Was für eine Schande, dass Sie keinen Verlobungsring haben«, sagte Lavinia.
Ursula hatte nicht an ihre Vorliebe für Modeschmuck gedacht und wünschte, sie hätte ihnen etwas mitgebracht. Sie besaß ein kleines Kästchen mit Strassspangen und Ohrclips, die Izzie ihr geschenkt hatte. Sie hätten es zu schätzen gewusst.
Lavinia trug eine
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