Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Körper«, die »Schichten deines Fleisches«, »das hübsche Gesicht« und so weiter vermissen würde, bis sie es satthatte und sagte: » Du bist es doch, der die Beziehung beenden will, nicht ich.«
    Sie fragte sich, ob er mit Moira auf die gleiche Weise Sex hatte – Distanz und Leidenschaft in gleichem Maße –, aber es war eine dieser Fragen, die man nicht stellen konnte für den Fall, dass er die Wahrheit sagte. Und es war auch nicht wichtig, Moira bekam ihn zurück. Verschmutzte Ware, trotzdem gehörte er ihr.
    Am nächsten Morgen frühstückten sie im Zimmer und hörten Chamberlains Rede. In der Suite stand ein Radio. Kurz darauf heulte eine Sirene, doch seltsamerweise gerieten sie nicht in Panik. Es schien alles so unwirklich. »Wahrscheinlich ist es eine Probe«, sagte Crighton. Und Ursula dachte, dass von nun an wahrscheinlich alles eine Probe wäre.
    Sie verließen das Hotel und gingen das Embankment entlang zur Westminster Bridge, wo Luftschutzhelfer in Trillerpfeifen bliesen und riefen, dass die Gefahr vorbei sei. Andere fuhren auf Fahrrädern mit Schildern vorbei, auf denen Entwarnung stand, und Crighton sagte: »Du meine Güte, ich fürchte um uns, wenn wir bei einem Angriff nichts Besseres zustande bringen.« Auf der Brücke wurden wie überall Sandsäcke gestapelt, und Ursula dachte, wie gut es war, dass es so viel Sand auf der Welt gab. Sie versuchte sich an den Text von »Das Walross und der Zimmermann« zu erinnern: »Wenn sieben Mägde sieben Jahr/Hier täglich siebenmal kehren/Ob sie dann wohl«, das Walross sprach,/»Den Strand vom Sand entleeren?«  – aber sie waren an der Whitehall angelangt, und Crighton unterbrach ihren Gedankengang, indem er ihre Hände in seine nahm und sagte: »Ich muss jetzt gehen, Liebling«, und einen Moment lang klang er wie ein ziemlich schlechter, sentimentaler Filmstar. Sie beschloss, den Krieg als Nonne zu überstehen. Das war leichter.
    Sie sah ihm nach, wie er die Whitehall entlangging, und fühlte sich plötzlich schrecklich einsam. Vielleicht würde sie doch nach Finchley zurückkehren.

November 1940
    S ie hörte, wie Emil auf der anderen Seite der Mauer plärrte und Mrs. Appleyard ihm beruhigende Vorhaltungen machte. Dann sang sie ein Wiegenlied in ihrer Sprache, ihrer Muttersprache. Es war ein ungewöhnlich trauriges Lied, und Ursula schwor sich, dass sie ihrem Kind nur lustige Liedchen vorsingen würde, sollte sie jemals ein eigenes Kind haben (schwierig, wenn man beschlossen hatte, als Nonne zu leben).
    Sie fühlte sich einsam. Ein warmer Körper wäre tröstlich, an einem Abend wie diesem wäre es besser, einen Hund bei sich zu haben, als allein zu sein. Ein lebendes, atmendes Etwas.
    Sie schob das Verdunkelungspapier zur Seite. Es waren keine Anzeichen von Bombern zu sehen, nur der lange Finger eines Suchscheinwerfers, der in der Schwärze stocherte. Der Neumond hing am Himmel. Bleich vor Müdigkeit laut Shelley, aber Königin und Jägerin, keusch und hell für Ben Jonson. Für Ursula war er von einer Gleichgültigkeit, die sie plötzlich erschaudern ließ.
    Bevor die Sirenen einsetzten, gab es immer eine Sekunde, in der sie sich des noch nicht gehörten Heulens bewusst war. Es war wie ein Echo oder vielmehr wie das Gegenteil eines Echos. Ein Echo kam danach, aber gab es ein Wort für das, was davor kam?
    Sie hörte das Jaulen eines Flugzeugs und das Bäng-bäng-bäng-bäng-bäng der ersten abgeworfenen Bomben, und sie wollte das Verdunkelungspapier wieder vor das Fenster schieben und in den Keller laufen, als sie im Eingang des Gebäudes gegenüber einen Hund kauern sah – fast als hätte sie ihn sich dorthin gewünscht. Sogar in ihrer Wohnung konnte sie seine Angst spüren. Sie zögerte kurz, dachte dann, oh, verdammt, und rannte die Treppe hinunter.
    Sie begegnete den Nesbit-Schwestern. »Oh, das bringt Unglück, Miss Todd«, sagte Lavinia und kicherte. »Sich auf der Treppe in entgegengesetzter Richtung über den Weg zu laufen.«
    Ursula ging hinunter, die Schwestern waren unterwegs nach oben. »Sie gehen in die falsche Richtung«, sagte sie sinnloserweise.
    »Ich habe mein Strickzeug vergessen«, sagte Lavinia. Sie trug eine Emailbrosche in Form einer schwarzen Katze. Ein winziger Strassstein funkelte als Auge. »Sie strickt eine Strampelhose für Mrs. Appleyards Baby«, sagte Ruth. »In ihrer Wohnung ist es so kalt.«

    Auf der Straße herrschte ein unglaublicher Krach. Sie hörte, wie Brandbomben auf ein Dach in der Nähe prasselten,