Die Unvollendete: Roman (German Edition)
weich und teigig war wie ein Laib Kartoffelbrot, eine durchaus modebewusste Frau war.
Auf dem Rückweg vom Mittagessen wollte Sylvie zu Oberpollinger gehen und ein Geschenk für Hugh kaufen. Als sie vor dem Kaufhaus ankamen, fanden sie die Schaufenster mit antijüdischen Sprüchen verschmiert, und Sylvie sagte: »Was für ein Saustall.« Das Kaufhaus war geöffnet, doch ein paar grinsende SA-Rüpel trieben sich vor dem Eingang herum und hielten die Leute davon ab, hineinzugehen. Nicht jedoch Sylvie, die an den Braunhemden vorbeimarschierte, während Ursula ihr widerwillig bis zu der mit einem dicken Teppich belegten Treppe folgte. Angesichts der Uniformen hatte Ursula übertrieben hilflos mit den Achseln gezuckt und verschämt gemurmelt: »Sie ist Engländerin.«
Sie meinte, dass Sylvie nicht verstand, wie es war, in Deutschland zu leben, doch im Rückblick dachte sie, dass Sylvie es vielleicht sehr gut verstanden hatte.
»Ah, das Mittagessen«, sagte Eva, legte die Kamera beiseite und nahm Friedas Hand. Sie führte sie zum Tisch und setzte sie dann auf ein extra Kissen, bevor sie ihren Teller mit Essen füllte. Huhn, Bratkartoffeln und Salat, alles vom Gutshof. Wie gut sie hier aßen. Zum Nachtisch bekam Frieda Milchreis, die Milch frisch von den Kühen des Gutshofs. (Ein weniger kindlicher Käsekuchen für Ursula, eine Zigarette für Eva.) Ursula erinnerte sich an Mrs. Glovers Reispudding, cremig, klebrig gelb unter der knusprigen braunen Haut. Sie konnte den Muskat riechen, obwohl sie wusste, dass in Friedas Milchreis kein Muskat war. Das Essen auf dem Berghof wäre das Einzige, was sie vermissen würde, insofern sollte sie es genießen, solange sie konnte. Sie nahm sich noch ein Stück Käsekuchen.
Das Mittagessen wurde ihnen von einem kleinen Kontingent der Personalarmee serviert, die auf dem Berghof diente. Der Berg war eine kuriose Mischung aus einem alpenländischen Urlaubschalet und einem militärischen Ausbildungslager. Eigentlich eine kleine Stadt mit einer Schule, einem Postamt, einem Theater, einer großen SS-Kaserne, einem Schießplatz, einer Kegelbahn, einem Wehrmachtskrankenhaus und noch mehr, alles außer einer Kirche. Es liefen auch jede Menge junger, gutaussehender Wehrmachtsoffiziere herum, die bessere Verehrer für Eva gewesen wären.
Nach dem Essen gingen sie zum Teehaus auf dem Mooslahnerkopf, Evas kläffende Hunde neben ihnen. (Wenn nur einer von ihnen von der Brüstung oder den Felsen stürzen würde.) Ursula, die leichte Kopfschmerzen hatte, ließ sich dankbar in einen Sessel mit dem grüngeblümten Leinenbezug sinken, den sie für eine besondere Beleidigung des Auges hielt. Tee – und natürlich Kuchen – wurden ihnen aus der Küche gebracht. Ursula schluckte zwei Kodeintabletten mit dem Tee und sagte: »Ich glaube, Frieda geht es gut genug, dass wir nach Hause fahren können.«
Ursula ging so früh wie möglich ins Bett, schlüpfte zwischen die kühlen weißen Laken im Bett des Gästezimmers, das sie mit Frieda teilte. Zu müde, um zu schlafen, war sie um zwei Uhr immer noch wach.
Sie schaltete die Nachttischlampe ein – Frieda schlief den tiefen Schlaf der Kinder, nur Krankheit konnte sie wecken – und holte Papier und Stift und schrieb Pamela.
Natürlich schickte sie keinen dieser Briefe an Pamela jemals ab. Sie war sich nicht völlig sicher, dass niemand sie las. Sie wusste es einfach nicht, das war das Schreckliche (um wie viel schrecklicher für andere). Sie wünschte, es wären nicht die heißen Hundstage, an denen der Kachelofen im Gästezimmer kalt und ungeheizt war, es wäre sicherer gewesen, den Brief zu verbrennen. Noch sicherer wäre es gewesen, ihn überhaupt nicht zu schreiben. Das, was man wirklich dachte, durfte man nicht mehr sagen. Wahrheit ist am Schluss allemal Wahrheit. Woraus war das? Maß für Maß? Aber vielleicht schlief die Wahrheit bis zum Tag der Abrechnung. Wenn es so weit wäre, würde sehr viel abgerechnet werden.
Sie wollte nach Hause. Sie wollte nach Fox Corner. Sie hatte vorgehabt, im Mai hinzufahren, aber dann war Frieda krank geworden. Sie hatte alles geplant, ihre Koffer waren gepackt, lagen unter dem Bett, wo sie normalerweise auch lagen, wenn sie leer waren, so dass Jürgen keinen Grund hatte hineinzuschauen.
Sie hatte die Zugfahrkarten und die Schiffspassagen, sie hatte niemandem etwas davon gesagt, nicht einmal Klara. Sie hatte ihre Pässe – Friedas Pass von ihrer Reise nach England 1935 war glücklicherweise noch
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