Die Unvollendete: Roman (German Edition)
gültig – nicht aus dem mit Stachelschweinstacheln verzierten Kästchen nehmen wollen, in dem sie alle ihre Dokumente aufbewahrten. Fast jeden Tag hatte sie kontrolliert, ob sie darin lagen, doch als sie am Tag vor ihrer Abreise nachsah, waren sie nicht mehr da. Sie dachte, dass sie sich täuschte, suchte zwischen Geburts-, Sterbe- und Heiratsurkunden, zwischen Versicherungspolicen und Garantiekarten, Jürgens Testament (er war schließlich Anwalt), allen anderen Dokumenten. Alles war da außer ihren Pässen. In wachsender Panik kippte sie den Inhalt auf den Teppich und ging noch einmal alles durch. Keine Pässe, nur die von Jürgen. Verzweifelt suchte sie in jeder Schublade im Haus, in jeder Schuhschachtel und jedem Schrank, unter den Sofakissen und Matratzen. Nichts.
Sie aßen zu Abend wie immer. Sie konnte kaum schlucken. »Fühlst du dich krank?«, fragte Jürgen besorgt.
»Nein«, sagte sie. Ihre Stimme quietschte. Was sollte sie sagen? Er wusste es, natürlich wusste er es.
»Ich dachte, wir machen Urlaub«, sagte er. »Auf Sylt.«
»Sylt?«
»Sylt. Dafür brauchen wir keine Pässe«, sagte er. Lächelte er? Wirklich? Und dann wurde Frieda krank, und nichts anderes war mehr wichtig.
»Er kommt!«, sagte Eva glücklich am nächsten Morgen beim Frühstück. Der Führer kam.
»Wann? Jetzt?«
»Nein, heute Nachmittag.«
»Wie schade, dann sind wir schon weg«, sagte Ursula. Gott sei Dank, dachte sie. »Bedank dich für uns bei ihm, ja?«
Sie wurden in einem schwarzen Mercedes aus der Flotte der Platterhof-Garage nach Hause gefahren, von demselben Chauffeur, der sie zum Berghof gebracht hatte.
Am nächsten Tag griff Deutschland Polen an.
April 1945
S ie lebten seit Monaten im Keller wie die Ratten. Es gab keine andere Möglichkeit, wenn die Briten tagsüber und die Amerikaner nachts bombardierten. Der Keller unter dem Wohnhaus am Savignyplatz war feucht und widerlich, eine kleine Kerosinlampe spendete Licht, ein Eimer diente als Toilette, doch der Keller war besser als die Bunker in der Stadt. Sie war mit Frieda tagsüber nahe dem Zoo von einem Luftangriff überrascht worden und hatte im Flakturm am Bahnhof Zoo Zuflucht gesucht – Tausende von Menschen drängten sich darin, der Sauerstoffgehalt der Luft wurde mit einer Kerze kontrolliert (als wären sie Kanarienvögel). Wenn die Kerze erlischt, sagte jemand, müssen alle raus, auch wenn angegriffen wird. Sie wurden gegen die Wand gepresst, und in ihrer Nähe umarmten sich ein Mann und eine Frau (ein höflicher Ausdruck für das, was sie taten), und als sie wieder hinauskonnten, mussten sie über einen alten Mann steigen, der während des Angriffs gestorben war. Schlimmer noch, am schlimmsten war, dass diese riesige Betonfestung nicht nur ein Bunker war, sondern auch eine gigantische Luftabwehrstellung, auf dem Dach feuerten ununterbrochen mehrere große Geschütze, und der Bunker erbebte bei jedem Rückstoß. Ursula hoffte, der Hölle nie näher kommen zu müssen.
Eine gewaltige Explosion hatte das Gebäude erschüttert, ein Einschlag in der Nähe des Zoos. Sie spürte, wie die Druckwelle ihren Körper ansaugte und wegstieß, und hatte Angst, dass Friedas Lunge platzen würde. Es ging vorbei. Mehrere Personen mussten sich übergeben, unglücklicherweise konnten sie sich nirgendwohin erbrechen außer auf ihre Füße oder, schlimmer noch, die ihrer Nachbarn. Ursula schwor sich, nie wieder einen Flakturm aufzusuchen. Lieber würde sie auf der Straße sterben, mit Frieda. Daran dachte sie oft in letzter Zeit. An einen schnellen, sauberen Tod, Frieda in ihren Armen.
Vielleicht war Teddy dort oben und warf Bomben auf sie ab. Sie hoffte es, es würde bedeuten, dass er am Leben war. Eines Tages war an ihre Tür geklopft worden – als sie noch eine Tür hatten, bevor die Briten im November 43 ihr unerbittliches Bombardement begannen. Als sie öffnete, stand da ein dünner Jugendlicher, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Er schien verzweifelt, und Ursula fragte sich, ob er nach einem Versteck suchte, doch er drückte ihr einen Umschlag in die Hand und rannte davon, bevor sie etwas zu ihm sagen konnte.
Der Umschlag war zerknittert und schmutzig. Ihr Name und ihre Adresse standen darauf, und beim Anblick von Pamelas Handschrift brach sie in Tränen aus. Die dünnen blauen Seiten, mehrere Wochen zuvor geschrieben, schilderten detailliert das Leben ihrer Familie – Jimmy in der Armee, Sylvie kämpfte an der Heimatfront (»eine neue Waffe –
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