Die Unvollendete: Roman (German Edition)
zu werden. Sie und Frieda banden sich mit Stofffetzen Kissen um die Knie und trugen dicke Lederhandschuhe, die Jürgen gehört hatten, und kraxelten dann wie ungeschickte Affen über die Steine und Trümmer.
Das Einzige, was in der Wohnung nicht zu finden war, war auch das Einzige, wofür sie sich interessierten – etwas zu essen. Gestern hatten sie drei Stunden für einen Laib Brot angestanden. Er schien kein richtiges Mehl zu enthalten, andererseits war es schwer festzustellen, woraus er bestand – Zement oder Gips? Danach schmeckte er jedenfalls. Ursula erinnerte sich an Rogerson, den Bäcker im Dorf zu Hause, der Duft nach warmem Brot war in der Straße zu riechen gewesen, und im Schaufenster lagen schöne, weiche weiße Laibe mit einem bronzefarbenen Schmelz. Oder in der Küche von Fox Corner, wenn Mrs. Glover buk – die großen braunen »Gesundheitslaibe«, auf denen Sylvie bestand, aber auch Biskuitkuchen, Tartes und Rosinenbrötchen. Sie stellte sich vor, eine Scheibe des warmen braunen Brots zu essen, dick gebuttert und bestrichen mit der Marmelade aus den Himbeeren oder roten Johannisbeeren von Fox Corner. (Sie quälte sich beständig mit Erinnerungen an Essen.) Es gebe keine Milch mehr, sagte jemand in der Schlange für das Brot.
Heute Morgen hatten ihr Fräulein Farber und ihre Schwester Frau Meyer, die gemeinsam im Dachgeschoss gewohnt hatten, aber jetzt kaum noch den Keller verließen, zwei Kartoffeln und ein Stück Kochwurst für Frieda gegeben, aus Anstand, wie sie sagten. Herr Richter, ebenfalls ein Kellerbewohner, erzählte Ursula, dass die Schwestern beschlossen hatten, nicht mehr zu essen. (Was nicht schwer war, wenn es nichts mehr zu essen gab, dachte Ursula.) Sie haben genug, sagte er. Sie haben Angst davor, was passieren wird, wenn die Russen kommen.
Es kursierte das Gerücht, dass die Menschen im Osten Gras aßen. Die Glücklichen, dachte Ursula, in Berlin gab es kein Gras, nur die skeletthaften Überreste einer stolzen und schönen Stadt. Sah London auch so aus? Es schien unwahrscheinlich, aber möglich. Speer hatte seine noblen Ruinen, tausend Jahre zu früh.
Gestern das ungenießbare Brot, zwei halb rohe Kartoffeln am Tag davor, mehr hatte Ursula nicht gegessen. Alles andere – so wenig es auch war – hatte sie Frieda gegeben. Aber was hätte Frieda davon, wenn Ursula starb? Sie konnte sie in dieser schrecklichen Welt nicht allein lassen.
Nach dem britischen Luftangriff auf den Zoo hatten sie dort nach essbaren Tieren gesucht, aber eine ganze Menge anderer Leute war ihnen zuvorgekommen. (Könnte das auch in London passieren? Londoner, die den Regent’s Park Zoo plünderten? Warum nicht?)
Hier und da sahen sie einen Vogel, der in Berlin eindeutig nicht heimisch war und gegen alle Widrigkeiten überlebt hatte, und eine ängstliche räudige Kreatur, die sie zuerst für einen Hund hielten, bis sie sie als Wolf erkannten. Frieda wollte ihn in den Keller mitnehmen und ihn zu einem Haustier erziehen. Ursula konnte sich nicht annähernd vorstellen, wie ihre alte Nachbarin, Frau Jaeger, darauf reagiert hätte.
Ihre Wohnung war wie ein Puppenhaus, einsehbar für alle Welt, alle privaten Dinge ihres häuslichen Lebens zur Schau gestellt – Betten und Sofas, die Bilder an den Wänden, sogar ein oder zwei Ziergegenstände hatten die Detonation wie durch ein Wunder überstanden. Sie hatten alles wirklich Nützliche herausgeholt, doch es waren noch ein paar Kleidungsstücke und ein paar Bücher da, und erst gestern hatte sie unter zerbrochenem Geschirr eine Schachtel mit Kerzen gefunden. Ursula hoffte, sie gegen Medizin für Frieda eintauschen zu können. Im Bad befand sich eine Toilette, und gelegentlich lief erstaunlicherweise das Wasser. Eine stand da und hielt ein altes Laken hoch, um die Privatsphäre der anderen zu schützen. War ihre Privatsphäre noch so wichtig?
Ursula hatte beschlossen, wieder einzuziehen. Es war kalt in der Wohnung, aber die Luft stank nicht, und sie glaubte, dass es alles in allem besser für Frieda wäre. Sie hatten noch Woll- und Daunendecken, in die sie sich wickeln konnten, und sie schliefen auf einer Matratze auf dem Boden hinter einer Barrikade, die sie aus dem Esstisch und Stühlen errichtet hatten. Ursulas Gedanken schweiften ständig zu den Gerichten, die sie an diesem Tisch gegessen hatten, sie träumte von Fleisch, Schweinefleisch und Rindfleisch, von dicken gegrillten, geschmorten und gebratenen Scheiben.
Die Wohnung befand sich im zweiten
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