Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Hühner!«). Pamela war wohlauf, lebte in Fox Corner und hatte jetzt vier Jungen. Teddy war bei der Royal Air Force, ein für besondere Verdienste ausgezeichneter Major. Ein wunderbarer, langer Brief und am Ende eine Seite, die nahezu ein Postscriptum war, »die traurige Nachricht habe ich bis zum Schluss aufgehoben«, Hugh war tot. »Im Herbst 1940, friedlich eingeschlafen, ein Herzinfarkt.« Ursula wünschte, sie hätte den Brief nicht bekommen, wünschte, sie könnte sich Hugh noch lebend vorstellen, Jimmy und Teddy als junge Männer, die nicht am Kriegsgeschehen teilnahmen, sondern in einer Kohlenmine oder im Zivilschutz arbeiteten.
»Ich denke immer an Dich«, schrieb Pamela. Keine Vorhaltungen, kein »Ich habe es Dir doch gesagt«, kein »Warum bist Du nicht nach Hause gekommen, als Du noch konntest?«. Sie hatte es versucht, aber es war natürlich zu spät gewesen. Am Tag, nach dem Deutschland Polen den Krieg erklärt hatte, war sie durch die Stadt gegangen und hatte pflichtbewusst die Dinge getan, die sie für angebracht hielt, wenn Krieg drohte. Sie hatte Vorräte an Batterien und Taschenlampen und Kerzen angelegt, Lebensmittel in Dosen und Verdunkelungsmaterial gekauft, Kleidung für Frieda bei Wertheim – ein, zwei Größen größer für den Fall, dass der Krieg sich hinzog. Sie kaufte nichts für sich, ging an all den warmen Mänteln und Stiefeln, Strümpfen und anständigen Röcken vorbei, was sie jetzt bitterlich bereute.
Sie hörte Chamberlain in der BBC, die schicksalhaften Worte Wir führen jetzt Krieg gegen Deutschland, und ein paar Stunden lang fühlte sie sich merkwürdig betäubt. Sie versuchte, Pamela anzurufen, aber alle Leitungen waren besetzt. Gegen Abend (Jürgen war den ganzen Tag im Ministerium) erwachte sie plötzlich wie Schneewittchen wieder zum Leben. Sie musste weg, sie musste zurück nach England, Pass hin oder her. Sie packte hastig einen Koffer und fuhr mit Frieda mit der Straßenbahn zum Bahnhof. Wenn sie in einen Zug steigen konnten, würde alles gut werden. Keine Züge, sagte ihr ein Beamter im Bahnhof. Die Grenzen waren geschlossen. »Wir sind im Krieg, wussten Sie das nicht?«, sagte er.
Sie ging zur britischen Botschaft in der Wilhelmstraße, zog die arme Frieda an der Hand hinter sich her. Sie waren deutsche Staatsbürger, aber sie würde sich der Großzügigkeit des Botschaftspersonals ausliefern, sie könnten sicher etwas für sie tun, schließlich war sie immer noch Engländerin. Es wurde bereits dunkel, die Tore waren verschlossen, im Gebäude brannte kein Licht. »Sie sind weg«, sagte ein Passant, »sie haben sie verpasst.«
»Weg?«
»Zurück nach England.«
Sie musste eine Hand vor den Mund halten, um den Schrei, der aus ihrem Innersten aufstieg, zu unterdrücken. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Warum hatte sie es nicht kommen sehen? Ein Narr erkennt die Gefahr erst, wenn es zu spät ist. Auch das hatte Elizabeth I gesagt.
Nachdem sie Pamelas Brief bekommen hatte, weinte sie zwei Tage immer wieder. Jürgen war mitfühlend, brachte echten Kaffee nach Hause, und sie fragte nicht, woher er ihn hatte. Eine gute Tasse Kaffee (so wunderbar sie auch war) konnte die Trauer um ihren Vater, um Frieda, um sich selbst, um alle nicht mindern. Jürgen starb bei einem amerikanischen Luftangriff 1944. Ursula schämte sich für die Erleichterung, die sie empfand, als ihr die Nachricht überbracht wurde, vor allem da Frieda so außer sich war. Sie liebte ihren Vater, und er liebte sie, und das war das einzig Positive, das aus ihrer leidigen Ehe gerettet werden konnte.
Frieda war jetzt krank. Sie hatte die gleichen hageren Züge und die kränklich blasse Haut wie die meisten anderen, die man dieser Tage auf den Straßen sah, doch ihre Lunge war voller Schleim, und sie hatte schreckliche Hustenanfälle, die nicht enden wollten. Wenn Ursula an ihrer Brust horchte, war es, als hörte sie eine Galeone auf See, die sich knarzend durch die Wogen kämpfte. Wenn Frieda nur neben einem großen warmen Feuer sitzen, heißen Kakao oder Rinderbrühe trinken, Klöße, Karotten essen könnte. Aßen sie auf dem Berg noch immer gut? War noch jemand auf dem Berg?
Das Wohnhaus über ihren Köpfen stand noch, nur der größte Teil der Fassade war einer Bombe zum Opfer gefallen. Sie kletterten manchmal hinauf, um nach Brauchbarem zu suchen. Nur die nahezu unüberwindliche Schwierigkeit, das Treppenhaus hinaufzusteigen, das voller Schutt lag, hatte das Haus davor bewahrt, geplündert
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