Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
Vom Netzwerk:
Stock, und diese Tatsache in Kombination mit der blockierten Treppe würde vielleicht ausreichen, um die Russen abzuhalten. Andererseits wären sie die Puppen im Puppenhaus, eine Frau und ein Mädchen, reif zum Pflücken. Frieda würde bald elf, aber wenn auch nur ein Zehntel der Gerüchte stimmte, die aus dem Osten zu ihnen gelangten, dann würde ihr Alter sie nicht vor den Russen retten. Frau Jaeger sprach ununterbrochen und nervös davon, wie sich die Russen vergewaltigend und mordend einen Weg nach Berlin bahnten. Es gab keine Radiosendungen mehr, nur noch Gerüchte und hin und wieder ein windiges Nachrichtenblatt. Frau Jaeger sprach ständig von Nemmersdorf (»Ein Massaker!«). »Ach, halten Sie den Mund«, hatte Ursula neulich zu ihr gesagt. Auf Englisch, das sie natürlich nicht verstand, obwohl ihr der unfreundliche Tonfall nicht entgangen sein konnte. Frau Jaeger war sichtlich erschrocken, dass sich jemand in der Sprache des Feindes an sie wandte, und Ursula tat es leid, sie war nur eine verängstigte alte Frau.
    Der Osten rückte jeden Tag näher. Das Interesse an der Westfront war längst erloschen, wichtig war nur noch der Osten. Das einst ferne Rumoren der Geschütze war zu einem beständigen Dröhnen angewachsen. Und es gab niemanden, der sie retten konnte. Achtzigtausend deutsche Soldaten, die meisten davon Kinder und alte Männer, sollten sie gegen eineinhalb Millionen Sowjets verteidigen. Vielleicht müsste die arme alte Frau Jaeger den Feind mit einem Besenstiel in die Flucht schlagen. Es konnte nur noch Tage, vielleicht auch nur Stunden dauern, bis sie die ersten Russen sahen.
    Es ging das Gerücht um, dass Hitler tot war. »Zeit wird’s«, sagte Herr Richter. Ursula erinnerte sich an ihn, wie er schlafend in einem Liegestuhl auf der Terrasse des Berghofs gelegen hatte. Er hatte seine Zeit auf der Bühne abgestolzt und abgeschnauft. Und was war dabei herausgekommen? Eine Art Armageddon. Der Tod Europas.
    Es war das Leben, korrigierte sie sich, das Shakespeare sich quälen und toben lässt. Leben ist nur ein Wanderschattenspiel; ein armer Komödiant, der seine Zeit abstolzt und abschnauft auf der Bühne. In Berlin waren sie alle wandernde Schatten. Das Leben war einst so wichtig gewesen, und jetzt war es der billigste Artikel im Angebot. Sie dachte kurz an Eva, der Gedanke an Selbstmord hatte sie immer kalt gelassen. Hatte sie ihren Führer in die Hölle begleitet?

    Frieda ging es sehr schlecht, Schüttelfrost und Fieber wechselten sich ab, sie klagte fast ständig über Kopfschmerzen. Wäre sie nicht krank gewesen, hätten sie sich dem Exodus der Menschen nach Westen, weg von den Russen, anschließen können, aber diese Anstrengung hätte Frieda keinesfalls überlebt.
    »Ich habe genug, Mummy«, flüsterte sie, ein schreckliches Echo der beiden Schwestern aus dem Dachgeschoss.
    Ursula ließ sie allein und lief in die Apotheke, kletterte über die Trümmer und gelegentlich über eine Leiche in den Straßen – sie empfand nichts mehr für die Toten. Sie duckte sich in einen Eingang, als die Schüsse sehr nahe schienen, und rannte dann zur nächsten Straßenecke. Der Apotheker hatte geöffnet, aber keine Medikamente, er wollte nicht einmal ihre wertvollen Kerzen oder ihr Geld. Sie kehrte verzweifelt zurück.
    Die ganze Zeit hatte sie Angst gehabt, dass Frieda in ihrer Abwesenheit etwas zustoßen könnte, und sie schwor sich, sie nie wieder allein zu lassen. Sie hatte zwei Straßen entfernt einen russischen Panzer gesehen. Der Anblick hatte ihr Todesangst eingejagt, um wie viel größer musste Friedas Angst sein. Der Lärm des Artilleriefeuers hörte nicht mehr auf. Ihr ging der Gedanke durch den Kopf, dass sich die Welt ihrem Ende näherte. Wenn es so war, dann musste Frieda in ihren Armen sterben, nicht allein. Aber in wessen Armen würde sie sterben? Sie sehnte sich nach der Nähe ihres Vaters, und der Gedanke an Hugh trieb ihr die Tränen in die Augen.
    Nachdem sie die verschüttete Treppe hinaufgestiegen war, war sie erschöpft, müde bis in die Knochen. Frieda war bisweilen bewusstlos, dann wieder wach, sie legte sich neben sie auf die Matratze auf dem Boden, strich ihr über das feuchte Haar und erzählte ihr leise von einer anderen Welt. Sie erzählte ihr von den Glockenblumen, die im Frühling im Wald nahe Fox Corner blühten – Flachs und Rittersporn, Butterblumen, Klatschmohn, rote Waldnelken und Margeriten. Sie erzählte ihr von dem Duft von frisch gemähtem Gras eines englischen

Weitere Kostenlose Bücher