Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
Vom Netzwerk:
öffentlichen Schutzräume nicht, das körperliche Gedränge, die Klaustrophobie verursachten ihr Gänsehaut. Sie waren einmal zu einem besonders grusligen Einsatz gerufen worden, als ein Schutzraum in ihrem Sektor direkt von einer Fallschirmbombe getroffen worden war. Ursula wollte lieber im Freien sterben als gefangen wie ein Fuchs in seinem Bau.

    Es war ein wunderschöner Abend. Die Mondsichel und eine Schar Sterne durchbohrten das schwarze Tuch der Nacht. Sie dachte an Romeos Lobrede auf Julia – Wie in dem Ohr des Mohren ein Rubin/So hängt der Holden Schönheit an den Wangen der Nacht. Ursula war jetzt infolge ihrer Traurigkeit in poetischer Stimmung, manche, auch sie selbst, hätten behauptet: in übermäßig poetischer Stimmung. Mr. Durkin, der falsch hätte zitieren können, war nicht mehr bei ihnen. Er hatte während eines Einsatzes einen Herzinfarkt erlitten und erholte sich laut Miss Woolf, »Gott sei Dank«. Sie hatte ihn im Krankenhaus besucht, Ursula nicht, doch sie fühlte sich deswegen nicht schuldig. Hugh war tot, Mr. Durkin nicht, in ihrem Herzen war wenig Platz für Mitgefühl. Mr. Durkins Position als Miss Woolfs Stellvertreter war von Mr. Simms übernommen worden.
    Die schrillen Geräusche des Kriegs hatten eingesetzt. Das Dröhnen des Sperrfeuers, der Motorenlärm der Flugzeuge mit ihrem monotonen, unregelmäßigen Rhythmus, von dem ihr übel wurde. Das Geschützfeuer, die Suchscheinwerfer, die ihre Finger in die Nacht streckten, die stumme Erwartung des Grauens – all das verdarb ihr bald die poetische Laune.
    Als sie am Einsatzort ankamen, waren alle anderen bereits da, die für Gas und Wasser Zuständigen, die Bombenentschärfer, Rettungstrupps, Bahrenträger, ein Leichenwagen (tagsüber der Lieferwagen einer Bäckerei). Auf der Straße lagen die verknäulten Schläuche der Feuerwehr, da auf der einen Straßenseite ein Gebäude lichterloh brannte und Funken und schwelende Holzstücke spuckte. Ursula glaubte, kurz Fred Smith gesehen zu haben, sein Gesicht von den Flammen flüchtig erleuchtet, doch dann entschied sie, dass sie sich getäuscht hatte.
    Die Männer von den Rettungstrupps gingen so umsichtig wie immer vor mit ihren Taschenlampen und Lampen trotz des Feuers, das in ihrem Rücken loderte. Doch ausnahmslos alle hatten eine Zigarette im Mundwinkel, obwohl es noch nicht gelungen war, das Gas abzustellen, ganz zu schweigen davon, dass die Bombenentschärfer vor Ort waren und jeden Moment eine Bombe explodieren konnte. Alle machten einfach ihre Arbeit (Not kennt kein Gebot), lässig im Angesicht drohenden Unheils. Oder vielleicht war es manchen (und Ursula fragte sich, ob sie sich dazuzählte) einfach auch gleichgültig.
    Ihr war unbehaglich zumute, vielleicht war es eine Ahnung, dass es heute Abend nicht gutgehen würde. »Das ist der Bach«, tröstete Miss Woolf sie, »er beunruhigt die Seele.«
    Offenbar erstreckte sich die Straße durch zwei Sektoren, und der verantwortliche Einsatzleiter lag sich mit zwei Helfern in den Haaren, die beide die Zuständigkeit forderten. Miss Woolf nahm an diesem Scharmützel nicht teil, da es sich nicht um ihren Sektor handelte, doch da es offensichtlich ein wirklich großer Einschlag war, instruierte sie ihre Leute, sich ins Zeug zu legen und zu ignorieren, was irgendjemand sagte.
    »Wie die Gesetzlosen«, sagte Mr. Bullock anerkennend.
    »Wohl kaum«, entgegnete Miss Woolf.
    Die Seite der Straße, die nicht brannte, war schwer getroffen worden, und der saure Geruch nach zermalmten Ziegeln und Kordit drang ihnen sofort in die Lunge. Ursula dachte an die Wiese hinter dem Wäldchen in Fox Corner. Flachs und Rittersporn, Klatschmohn, Waldnelken und Margeriten. Sie dachte an den Geruch von frisch gemähtem Gras und den belebenden Duft eines Sommerregens. Das war ein neues Ablenkungsmanöver, um gegen den widerlichen Gestank einer Explosion anzukämpfen. (»Funktioniert es?«, fragte der neugierige Mr. Emslie. »Nicht wirklich«, erwiderte Ursula.) »Früher habe ich an das Parfüm meiner Mutter gedacht«, sagte Miss Woolf. »April Violets. Aber wenn ich mich jetzt an meine Mutter erinnern will, fallen mir leider immer die Bomben ein.«
    Ursula bot Mr. Emslie ein Pfefferminzbonbon an. »Das hilft ein bisschen«, sagte sie.
    Je näher sie dem Einsatzort kamen, umso schlimmer sah es aus (das Gegenteil war nur selten der Fall).
    Es bot sich ihnen ein grausiges Tableau – zermalmte Körper lagen herum, viele davon gliederlose Torsos wie

Weitere Kostenlose Bücher