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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Finger. Ursula befreite die Handtasche aus Renees festem Griff und leerte sie aus. »Ihr Ausweis«, sagte sie und hielt ihn hoch, damit Mr. Emslie ihn sehen konnte. »Renee Miller« stand darin. Er notierte ihren Namen auf dem Zettel.
    Während Mr. Emslie sich an das komplizierte Manöver machte, sich umzudrehen und aus dem Keller zu kriechen, nahm Ursula das goldene Zigarettenetui, das zusammen mit Renees Puderdose und Lippenstift, Parisern und Gott weiß was aus der Tasche gefallen war. Es war kein Geschenk, sondern Diebesgut, davon war sie überzeugt. Es stellte Ursulas Phantasie vor eine schwierige Aufgabe, sich Renee und Crighton im selben Zimmer vorzustellen, ganz zu schweigen vom selben Bett. Der Krieg sorgte für seltsame Bettgenossen. Er musste sie irgendwo in einem Hotel aufgelesen haben oder vielleicht an einem weniger bekömmlichen endroit. Wo hatte sie Französisch gelernt? Wahrscheinlich wusste sie nur ein paar Wörter. Jedenfalls nicht von Crighton, der der Ansicht war, dass Englisch ausreichte, um die Welt zu regieren.
    Sie steckte das Zigarettenetui und den Ausweis in ihre Tasche.

    Als sie versuchten, rückwärts aus dem Keller zu gelangen (sie hatten den Versuch aufgegeben, sich umzudrehen), verrutschte der Schutt auf eine Weise, dass ihnen das Herz stehenblieb. Sie hielten wie gelähmt inne, duckten sich wie Katzen, wagten eine scheinbare Ewigkeit lang kaum zu atmen. Als sie es als sicher empfanden, sich wieder zu bewegen, mussten sie feststellen, dass das neue Arrangement der Trümmer die Barrikade unüberwindlich gemacht hatte und sie gezwungen waren, einen anderen Ausgang zu suchen.
    Auf Händen und Knien krochen sie durch die zerstörten Fundamente des Gebäudes. »Dieser Spaß macht meinem Rücken den Garaus«, sagte Mr. Emslie.
    »Er macht meinen Knien den Garaus«, sagte Ursula. Müde und beharrlich krochen sie weiter. Ursula heiterte sich mit dem Gedanken an gebutterten Toast auf, obwohl es in Phillimore Gardens keine Butter mehr gab und auch kein Brot, außer Millie hätte sich angestellt (unwahrscheinlich).
    Der Keller schien ein endloses Labyrinth zu sein, und langsam dämmerte Ursula, warum oben Leute vermisst wurden – sie hatten sich hier unten versteckt. Die Hausbewohner hatten diesen Teil des Kellers als Schutzraum benutzt. Es schien, als wären die Toten – Männer, Frauen, Kinder, sogar ein Hund – begraben worden, wo sie saßen. Sie waren von Kopf bis Fuß mit einer dicken Staubschicht bedeckt und sahen aus wie Statuen oder Fossile. Sie dachte unwillkürlich an Pompeji und Herculaneum. Sie war an beiden Orten gewesen während ihrer ehrgeizig als »Grand Tour« betitelten Reise durch Europa. Sie hatte in Bologna gewohnt, wo sie sich mit einem amerikanischen Mädchen – der draufgängerischen Kathy – angefreundet und mit ihr einen Kurztrip – Venedig, Florenz, Rom, Neapel – gemacht hatte, bevor Ursula nach Frankreich weiterreiste, dem letzten Ziel während ihres Jahrs im Ausland.
    In Neapel, einer Stadt, die ihnen wirklich Angst einjagte, heuerten sie einen redseligen privaten Reiseführer an und liefen den längsten Tag ihres Lebens unter der gnadenlosen Sonne des Südens entschlossen durch die staubtrockenen Ruinen der untergegangenen Städte des Römischen Reichs.
    »Oje«, sagte Kathy, während sie durch das menschenleere Herculaneum stolperten, »ich wünschte, sie hätten sich die Mühe gespart, das alles auszugraben.« Ihre Freundschaft hatte eine Weile hell gelodert und war schnell erloschen, als Ursula nach Nancy weiterzog.
    »Ich habe meine Flügel ausgebreitet und fliegen gelernt«, schrieb sie an Pamela, nachdem sie München und ihre Gastgeber, die Brenners, verlassen hatte. »Ich bin eine weltgewandte Frau«, obwohl sie kaum mehr als flügge war. Nach diesem Jahr, in dem sie eine endlose Reihe Privatschüler über sich hatte ergehen lassen, wusste sie zumindest, dass Lehrerin das Letzte war, was sie werden wollte.
    Stattdessen belegte sie nach ihrer Rückkehr – mit Blick auf den öffentlichen Dienst – Intensivkurse in Kurzschrift und Schreibmaschineschreiben in High Wycombe bei einem Mr. Carver, der später verhaftet wurde, weil er sich in der Öffentlichkeit entblößt hatte. (»Ein Schwanzvorführer?«, sagte Maurice und verzog angewidert den Mund, und Hugh schrie ihn an, in seinem Haus nie wieder diese Ausdrücke zu verwenden, und schickte ihn wütend aus dem Zimmer. »Infantil«, sagte er, nachdem Maurice sich in den Garten verdrückt

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