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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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rennen.
    Mr. Emslie befand sich im Keller des Gebäudes, und Ursula wurde von zwei Männern des Rettungstrupps hinuntergelassen und musste sich dann durch eine Barrikade aus Balken und Ziegeln zwängen. Ihr war bewusst, dass das gesamte Haus offenbar von ebendieser Barrikade gestützt wurde. Mr. Emslie lag neben einer Frau. Ihre untere Hälfte war von Trümmern verschüttet, aber sie war bei Bewusstsein und konnte ihre missliche Lage mühelos in Worte fassen.
    »Wir holen Sie gleich hier raus«, sagte Mr. Emslie. »Und dann gibt’s eine schöne Tasse Tee? Wie hört sich das an? Gut? Hätte selbst gern eine. Und da kommt Miss Todd mit einer Schmerztablette«, redete er beruhigend auf sie ein. Ursula gab ihm die winzige Morphiumtablette. Er machte seine Sache gut, es war schwer, ihn sich mit einer Schürze vorzustellen, wie er Zucker abwog und Butter klopfte.
    Eine Mauer des Kellers war mit Sandsäcken verstärkt worden, doch durch die Explosion waren die Säcke geplatzt, und einen beunruhigenden Augenblick lang meinte Ursula zu halluzinieren und an einem Strand zu sein, sie wusste nicht, wo, ein Reifen rollte in einer steifen Brise neben ihr her, Möwen kreischten über ihr, und dann war sie genauso plötzlich wieder im Keller. Schlafmangel, dachte sie, es war wirklich teuflisch.
    »Wurde verdammt noch mal aber auch Zeit«, sagte die Frau und schluckte gierig die Tablette. »Man könnte meinen, ihr seid ein bescheuertes Teekränzchen.« Sie war jung und kam Ursula merkwürdig bekannt vor. Sie klammerte sich an ihre Handtasche, ein großes schwarzes Ding, als würde es sie in diesem Meer aus Schutt über Wasser halten. »Hat einer von euch ’nen Glimmstengel?« Mr. Emslie zog angesichts der beengten Verhältnisse mit einiger Mühe eine zerdrückte Schachtel Players aus der Hosentasche und mit noch größeren Schwierigkeiten eine Schachtel Streichhölzer. Sie trommelte nervös mit den Fingern auf das Leder ihrer Handtasche. »Lassen Sie sich Zeit«, sagte sie sarkastisch.
    »Entschuldigung«, sagte sie, nachdem sie tief inhaliert hatte. »Ein endroit wie dieser geht an die Nerven.«
    »Renee?«, sagte Ursula erstaunt.
    »Was geht Sie das an?«, erwiderte sie und kehrte zu ihrem früheren flegelhaften Selbst zurück.
    »Wir sind uns vor zwei Wochen in der Toilette des Charing Cross Hotels begegnet.«
    »Ich glaube, Sie verwechseln mich«, sagte sie affektiert. »Das tun viele. Liegt wohl an meinem Gesicht.«
    Sie zog lang an der Zigarette und atmete dann langsam und mit größtem Vergnügen aus. »Habt ihr noch mehr von diesen kleinen Pillen?«, fragte sie. »Auf dem Schwarzmarkt kriegt man bestimmt ’ne Menge Geld dafür.« Sie klang benommen, vermutlich begann das Morphium zu wirken, doch dann fiel ihr die Zigarette aus den Fingern, sie verdrehte die Augen und verkrampfte sich. Mr. Emslie ergriff ihre Hand.
    Ursula entdeckte hinter Mr. Emslie eine Farbreproduktion von Millais’ Seifenblasen, das jemand mit Tesa an einen Sandsack geklebt hatte. Sie mochte das Bild nicht, sie mochte alle Präraffaeliten mit ihren matten Frauen nicht, die aussahen, als hätten sie Drogen genommen. Aber es war wohl nicht der richtige Ort und die richtige Zeit für Kunstkritik. Der Tod war ihr mittlerweile nahezu gleichgültig. Ihre weiche Seele war kristallhart geworden. (Besser so, dachte sie.) Sie war ein im Feuer geschmiedetes Schwert. Und wieder war sie woanders, ein winziges Flackern der Zeit. Sie ging eine Treppe hinunter, eine Glyzinie blühte, sie flog aus einem Fenster.
    Mr. Emslie redete Renee gut zu. »Komm, Susie, gib jetzt nicht auf. Wir bringen dich gleich hier raus, du wirst schon sehen. Die Jungs arbeiten dran. Und die Mädchen auch«, fügte er um Ursulas willen hinzu. Renee verkrampfte sich nicht mehr, dafür begann sie unkontrolliert zu zittern, und Mr. Emslie sagte jetzt nachdrücklicher: »Komm schon, Susie, komm, Mädchen, bleib wach, sei ein braves Mädchen.«
    »Sie heißt Renee«, sagte Ursula, »auch wenn sie es leugnet.«
    »Ich nenne sie alle Susie«, sagte Mr. Emslie leise. »Ich hatte eine kleine Tochter, die so hieß. Sie ist an Diphtherie gestorben, als sie noch ganz klein war.«
    Renee zitterte noch einmal am ganzen Körper, und dann entschwand das Leben aus ihren halb geöffneten Augen.
    »Tot«, sagte Mr. Emslie betrübt. »Wahrscheinlich innere Verletzungen.« Er schrieb in seiner ordentlichen Lebensmittelhändlerhandschrift »Argyll Road« auf einen Zettel und befestigte ihn an ihrem

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