Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Schneiderpuppen ohne Kleider. Ursula dachte an die Schaufensterpuppen, die sie mit Ralph in der Oxford Street gesehen hatte, nachdem John Lewis in die Luft geflogen war. Ein Bahrenträger, der bislang noch kein lebendes Opfer gefunden hatte, sammelte Gliedmaßen ein – Arme und Beine, die aus den Trümmern ragten. Es sah aus, als wollte er die Toten zu einem späteren Zeitpunkt wieder zusammensetzen. Tat man das?, fragte sich Ursula. Versuchte man in den Leichenhallen die Menschen zusammenzufügen wie ein makabres Puzzle? Manche waren natürlich jenseits aller Wiederherstellung – zwei Männer des Rettungstrupps rechten Fleischklumpen zusammen und schaufelten sie in einen Korb, ein anderer kratzte mit einem Reisigbesen etwas von einer Mauer.
Ursula fragte sich, ob sie manche Opfer gekannt hatte. Ihre Wohnung in Phillimore Gardens war nur zwei Straßen entfernt. Vielleicht war sie an manchen morgens auf dem Weg zur Arbeit vorbeigegangen oder hatte beim Lebensmittelhändler oder Fleischer mit ihnen gesprochen.
»Offenbar werden viele vermisst«, sagte Miss Woolf. Sie hatte mit dem Einsatzleiter gesprochen, der dankbar schien, auf eine vernünftige Person zu treffen. »Sie werden erfreut sein, wir sind keine Gesetzlosen mehr.«
Ein Stockwerk über dem Mann mit dem Reisigbesen (es gab natürlich keine Stockwerke mehr) hing ein Kleid auf einem Kleiderbügel an einer Bilderschiene. Ursula war von diesen kleinen Überresten häuslichen Lebens – der Wasserkessel, der noch auf dem Herd stand, der für ein Abendessen gedeckte Tisch, das nie mehr gegessen würde – oft gerührter als von dem größeren Elend und der Zerstörung, die sie umgaben. Doch als sie das Kleid betrachtete, sah sie, dass es noch getragen wurde von einer Frau, die keinen Kopf und keine Beine mehr hatte, aber noch Arme. Die Launenhaftigkeit von Sprengstoff überraschte Ursula immer wieder. Die Frau schien irgendwie mit der Mauer verschmolzen. Das Feuer loderte so hell, dass sie eine kleine Brosche erkennen konnte, die an dem Kleid steckte. Eine schwarze Katze, ein Strassstein als Auge.
Schutt bewegte sich unter ihren Füßen, als sie sich einen Weg zur rückwärtigen Mauer des Gebäudes bahnte. Zwischen den Trümmern saß eine Frau, Arme und Beine von sich gestreckt wie eine Stoffpuppe. Sie sah aus, als wäre sie in die Luft geschleudert worden und irgendwo wieder gelandet – was wahrscheinlich auch der Fall gewesen war. Ursula versuchte, den Bahrenträger auf sich aufmerksam zu machen, aber eine Flugzeugstaffel flog gerade über sie hinweg, und niemand konnte sie hören.
Die Frau war so dick mit grauem Staub bedeckt, dass ihr Alter unmöglich zu schätzen war. Eine ihrer Hände war schrecklich verbrannt. Ursula kramte in ihrer Erste-Hilfe-Tasche nach der Tube Burnol und verrieb die Salbe auf ihrer Hand. Sie wusste nicht, warum, aber die Frau machte den Eindruck, dass ihr mit Burnol nicht mehr zu helfen war. Sie wünschte, sie hätte Wasser dabei, die Lippen der Frau waren schmerzhaft trocken. Unerwarteterweise öffnete sie die dunklen Augen, die Wimpern bleich und staubverklebt, und versuchte etwas zu sagen, doch ihre Stimme war so heiser, dass Ursula sie nicht verstand. War sie Ausländerin? »Was?«, fragte Ursula. Sie glaubte, dass die Frau jetzt dem Tod sehr nahe war.
»Baby«, krächzte die Frau plötzlich, »wo ist mein Baby?«
»Baby?«, wiederholte Ursula und schaute sich um. Sie entdeckte keine Spur von einem Baby. Es konnte überall unter dem Schutt liegen.
»Er heißt«, sagte die Frau mit gutturaler undeutlicher Stimme – sie strengte sich ungeheuer an, bei Bewusstsein zu bleiben, »Emil.«
»Emil?«
Die Frau nickte nahezu unmerklich, als könnte sie nicht mehr sprechen. Ursula sah sich noch einmal nach dem Baby um. Dann wandte sie sich wieder der Frau zu, um sie zu fragen, wie groß das Kind war, doch ihr Kopf hing schlaff herunter, und als Ursula nach einem Puls suchte, fand sie keinen.
Sie ließ die Frau sitzen und machte sich auf die Suche nach den Lebenden.
»Können Sie Mr. Emslie eine Morphiumtablette bringen?«, fragte Miss Woolf. Sie hörten beide eine Frau schreien und fluchen wie ein Bierkutscher, und Miss Woolf fügte hinzu: »Für die Dame, die so viel Lärm macht.« Eine gute Faustregel war, je mehr Krach jemand schlug, umso unwahrscheinlicher war, dass er starb. Diese Verletzte klang, als würde sie sich im Alleingang aus den Trümmern des Hauses kämpfen und durch Kensington Gardens
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