Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Ursula. »Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.«
Ursula holte im Hühnerstall die Eier aus den Nestern, als Izzie hereinkam. Die Hühner gackerten ruhelos, sie vermissten wohl Sylvies Aufmerksamkeiten, die Glucke. »Da ist noch etwas«, sagte Izzie, »was ich dir erzählen wollte.«
»Ja?«, sagte Ursula, abgelenkt von einer besonders brütigen Henne.
»Ich hatte ein Kind.«
»Was?«
»Ich bin Mutter«, sagte Izzie, scheinbar unfähig, nicht dramatisch zu klingen.
»Du hast in Kalifornien ein Kind gekriegt?«
»Nein, nein.« Izzie lachte. »Vor vielen Jahren. Ich war selbst noch ein Kind. Sechzehn. Ich habe ihn in Deutschland geboren, ich wurde in Ungnade ins Ausland geschickt, wie du dir vorstellen kannst. Es war ein Junge.«
»In Deutschland? Wurde er adoptiert?«
»Ja. Oder vielmehr weggegeben. Hugh hat sich darum gekümmert, und er hat bestimmt eine gute Familie ausgesucht. Aber er hat ihn zu einer Geisel des Schicksals gemacht, oder? Der arme Hugh, er war damals ein Fels in der Brandung, Mutter wollte nichts damit zu tun haben. Aber er muss gewusst haben, wie sie heißen, wo sie wohnen und so weiter.« Die Hühner gackerten jetzt ohrenbetäubend laut, und Ursula sagte: »Gehen wir raus.«
»Ich habe immer gedacht«, sagte Izzie, hakte sich bei Ursula unter und dirigierte sie zum Rasen, »dass ich eines Tages mit Hugh darüber reden würde, was er mit dem Baby gemacht hat, und dann könnte ich vielleicht nach ihm suchen. Mein Sohn«, fügte sie hinzu, als würde sie die Worte zum ersten Mal sagen. Tränen rollten ihr übers Gesicht. Dieses eine Mal schienen ihre Gefühle aus tiefstem Herzen zu kommen. »Und jetzt ist Hugh tot, und ich werde das Baby nie finden. Er ist natürlich kein Baby mehr, er ist so alt wie du.«
»Wie ich?«, sagte Ursula und versuchte zu begreifen.
»Ja. Aber er ist der Feind. Vielleicht ist er dort droben« – sie schauten beide automatisch zum blauen Herbsthimmel empor, an dem sich weder Freund noch Feind befand – »oder bei der Armee. Vielleicht ist er tot oder wird sterben, wenn sich dieser elende Krieg hinzieht.« Izzie schluchzte jetzt hemmungslos. »Womöglich wurde er als Jude aufgezogen. Hugh war kein Antisemit, ganz im Gegenteil, er war gut befreundet mit – eurem Nachbarn, wie heißt er noch?«
»Mr. Cole.«
»Du weißt doch, was mit den Juden in Deutschland passiert, oder?«
»Oh, um Himmels willen«, sagte Sylvie und stand plötzlich vor ihnen wie eine böse Fee. »Weswegen machst du so ein Theater?«
»Du solltest mit mir nach London kommen«, sagte Ursula zu Izzie. Izzie hätte weniger Mühe, mit den Bomben der Luftwaffe fertigzuwerden als mit Sylvie.
November 1940
M iss Woolf spielte ihnen etwas auf dem Klavier vor. »Ein bisschen Beethoven«, sagte sie. »Ich bin zwar keine Myra Hess, aber ich dachte, es wäre nett.« Sie hatte mit beidem recht. Mr. Armitage, der Opernsänger, fragte Miss Woolf, ob sie ihn begleiten würde, wenn er »Non più andrai« aus Die Hochzeit des Figaro sänge, und Miss Woolf, die an diesem Abend besonders mutig war, stimmte zu, es zu versuchen. Es war ein mitreißender Auftritt (»unerwartet viril «, lautete Miss Woolfs Urteil), und niemand hatte Einwände, als Mr. Bullock (keine Überraschung) und Mr. Simms (sehr wohl eine Überraschung) eine derb-witzige Version anstimmten.
»Ich kenne auch eine!«, sagte Stella, und es stimmte, was die Melodie betraf, beim Text jedoch haperte es, als sie begeistert »Dum-di-dum, dum-di-dum, dum-di- dum « und immer so weiter sang.
Ihre Gruppe war vor kurzem um zwei Mitglieder erweitert worden. Der Erste war Mr. Emslie gewesen, ein Lebensmittelhändler aus einer anderen Gruppe, der aus seinem Haus, seinem Laden und seinem Sektor gebombt worden war. Er war wie Mr. Simms und der tote Mr. Palmer ein Veteran aus dem ersten Krieg. Der zweite Neuzugang verfügte über einen etwas exotischeren Hintergrund. Stella war eins von Mr. Bullocks »Revuemädchen« und gab (bereitwillig) zu, eine »Stripteasekünstlerin« zu sein, und Mr. Armitage, der Opernsänger, sagte: »Wir sind hier alle Künstler, Liebes.«
»Was für eine verdammte Tunte der Mann ist«, murmelte Mr. Bullock, »steckt ihn in die Armee, da wird er zurechtgerückt.« »Das bezweifle ich«, sagte Miss Woolf. (Und warum war der stramme Mr. Bullock nicht einberufen worden?) »Also«, folgerte Mr. Bullock, »wir haben einen Itzig, einen Schwulen und ein Flittchen, das klingt wie ein dreckiger
Weitere Kostenlose Bücher